M: Ich weiß nicht, wie es in eurer Ecke ist, aber in unserem Viertel hier ähnelt ein Spaziergang momentan einem mühsamen Slalomlauf: Baustellen über Baustellen. Halbe Straßen sind komplett gesperrt, der Asphalt aufgerissen, Radfahrer und Fußgänger wurschteln sich irgendwie so durch, wobei es teilweise zu gefährlichen Engpässen kommt, Hauseingänge sind kaum noch betretbar… Ich versuche dann immer um die Ecke auszuweichen – und stehe vor der nächsten Baustelle! Und wehe, man muss zum Bahnhof oder zum Sendlinger Tor!
Direkt neben uns wird seit Februar ein schöner Altbau renoviert: Die bisherigen Büros werden zu Wohnungen umgebaut (letztere leider nur für „Staatsbedienstete“!). Morgens spätestens um 7 geht es los; bis auf die Wochenenden waren unsere Balkone – ausgerechnet! – diesen Sommer eigentlich nicht zu nutzen. Das Schlimmste sind die Presslufthämmer und die Geräte, mit denen die vorhandenen Balkone abgeflext wurden, ein Höllenlärm, vor dem ich oft mit dem Hund in den Englischen Garten (bei schönem Wetter) oder in ein Café (bei schlechtem) geflüchtet bin. Inzwischen weiß ich wirklich genau, warum Ruhe und Stille als unbezahlbarer Luxus gelten.
Spaß habe ich aber wiederum mit den Bauarbeitern. Inzwischen kennt und grüßt man sich, und trotz oft widriger Arbeitsbedingungen wie etwa Dauerregen sind die Jungs fast alle gut drauf. Am Freitag ging ich vorbei, und da standen sie zu sechst auf dem Gerüst und sangen laut und inbrünstig und in schönstem Falsett zu „Silence is Golden“, das aus ihrem Baustellenradio dröhnte. Das hat mich sofort in beste Laune versetzt, die den Tag über anhielt. Leider spukte mir auch der Song noch Ewigkeiten als Dauerschleife im Kopf herum, aber fürs Radioprogramm können die Jungs ja nichts, gell?
A: Freundlich grüßende Bauarbeiter gibt’s auch hier. Die treffen sich gern im Kramerladen – wie meine Schwägerin ihn nennt – ums Eck. Da gibt es alles für den kleinen Einkauf, ein täglich wechselndes Tagesgericht und den ganzen Tag Sonne, wenn sie scheint. In unserem Teil von Altschwabing ist die Baustellendichte aber nicht so hoch im Augenblick.
Dafür bekomme ich in regelmäßigen Abständen aktuelle Bilder von der Großbaustelle am Elisabethmarkt. Meine Freundin, die direkt gegenüber wohnt, lebte im Juli und August am Tegernsee, um dem tagtäglichen Abrisslärm UND den nächtlichen Gleisbauarbeiten für die Tram in der Zeit von 20.00 – 4.00 Uhr morgens zu entfliehen. Mittlerweile sind die alten Standl am Markt weg und es folgt bald der Aushub für die Tiefgaragengeschosse. Die Bilder, die sie schickt, sind ein lückenloses Zeugnis dieses Prozesses, der ja vier lange Jahre dauern soll!!!
Irgendwann werden wir dann vielleicht in ihrem Wohnungs-Flur stehen und der Entwicklung im Zeitraffer folgen: Sie will die markantesten und ungewöhnlichsten Bilder rahmen, auch weil sie – trotz schäbigen Verhaus auf der Baustelle – irgendwie schön sind und sie immer so früh wach ist, dass sie den Sonnenaufgang über den Häuserdächern hinter dem abgerissenen Markt einfangen kann.
M: Oh ja, den Elisabethmarkt hab ich ganz vergessen! Ich hab gerade mit dem Hund einen kleinen Morgenspaziergang dorthin gemacht und gestaunt über die gigantische Baustelle – da ist ja wirklich ALLES weg! Der kleine Biergarten, wo wir gerne gesessen haben, der Spielplatz, auf dem ich mit den Kindern oft war, als wir noch um die Ecke gewohnt haben, mein Lieblingskäseladen. Auf dem Interimsmarkt kann man aber immerhin noch einkaufen, das hab ich auch gleich gemacht. Und mich mit zwei Standl-Besitzern ausgetauscht, die zwar auch unter der Baustelle leiden, sich aber sehr auf den neuen Markt freuen, wenn er denn mal fertig ist (sie meinen/hoffen, in zweieinhalb Jahren und nicht in vier!). Dann bekommen sie nämlich endlich genug Lager- und Kühlflächen, Abstellplätze für ihre Fahrzeuge und vor allem ausreichend Klos, das war offenbar bisher ein großes Problem. Ich hab mir vor einiger Zeit schon das Modell des neuen Marktes angeschaut und fand es auf den ersten Blick eigentlich sehr schön. Der Baumbestand bleibt zum Beispiel genauso erhalten wie die Sitzgelegenheiten, und auf einigen der Standl soll es Dachterrassen geben; ein bisschen weniger Fläche wird es allerdings geben.
Natürlich hat es auch bei diesem Projekt jede Menge Proteste gegeben, den Markt so zu erhalten, wie er ist. Verstehen kann ich das nicht wirklich. Dass die Standl, die nach dem Krieg gebaut wurden, sanierungsbedürftig waren, konnte man ja unschwer erkennen, und dass der Platz im hinteren Bereich an der Feuerwache, wo früher die Freibank war, als Müllabladeplatz verkommen war, auch. Dass Charme und Flair, so wie befürchtet, verloren gehen, glaube ich nicht – vielleicht bin ich da auch zu optimistisch. Ich stelle mich da aber eher auf die Seite der Händler, die unter der bisherigen Situation zum Teil schon gelitten haben.
A: Wir haben den alten Elisabethmarkt vor einigen Wochen verabschiedet: An einem Sonntagnachmittag in der „historischen Kulisse“ – vor der Traditionsmetzgerei Weil auf der angeketteten Bierbankgarnitur sitzend. Das Ganze mit Milchkaffee und Kuchen auf einem Tablett, das wir aus besagter, gegenüberliegender Freundinnen-Wohnung über die Straße balanciert haben. Es war herrlich in der Sonne vor dem alten Standl! DAS hat jetzt etwas Einzigartiges, nie Wiederholbares und beansprucht – in dieser Wehmut-Wolke – auch einen festen Platz in der Erinnerung. So ist es wohl, wenn was Neues kommt und was Altes geht. Wenn es nur nicht immer mit so viel Lärm verbunden wäre!
DEN wird es jetzt nämlich auch bald am Schwabinger Artur-Kutscher-Platz geben, den ich gerade schlangenlinienförmig mit dem Radl umfahren musste, weil der komplett abgeriegelt ist mit diesen rot-weißen Absperrschranken! Echt jetzt? Die Platzfläche soll auf 850 Quadratmeter vergrößert werden, zu den Bestandsbäumen neue dazukommen, insektenfreundliche Stauden sollen den Verkehr abschirmen und es wird viele neue Sitzelemente und 20 neue Fahrradabstellplätze geben. So zumindest die Auskunft im digitalen Stadtportal. Ich glaub, da schau ich jetzt immer rein, wenn ich wieder eine ruhestörende Baustelle entdecke. Dann kann sich über das Entnervt-Sein zumindest eine hübsche neue After-Baustelle-Vision legen, die mir hoffentlich einen etwas versöhnlicheren Blick auf den ein und anderen Lärmplatz schenken wird.
M: Jetzt ist also der Artur-Kutscher-Platz auch noch dran? Ich muss zugeben, der hat es nötig und kann nur schöner werden. Trotzdem bin ich froh, dass ich da nicht wohne. Mir reicht, dass momentan in unserem Nachbarhaus auch samstags gebohrt, geklopft, gehämmert wird.
Eine Freundin unterstellte mir, dass ich übertreibe – SO schlimm sei das doch gar nicht mit den Baustellen, und in einer Großstadt gebe es eben immer irgendwas zu tun oder zu reparieren, ich sei da einfach zu empfindlich. Hm, überlegte ich, vielleicht hat sie Recht – und noch während ich darüber nachdachte, ging ich am Freitag zu Fuß zu meinem Zahnarzt und stolperte gleich über drei neue Baustellen, eine zum Beispiel vorm Arri-Kino (das seit einiger Zeit einen anderen Namen hat, den ich mir nie merken kann). Und rate mal, was ich sehen musste, als ich beim Arzt ankam? Genau! Das ganze Gebäude dort wird renoviert.
Heute unterhielt ich mich mit einem Nachbarn darüber, dass die Bauarbeiten nebenan Mitte November beendet sein sollen, also nur noch vier Wochen Dreck und Lärm. Leider erfuhr ich bei dieser Gelegenheit noch etwas anderes: Angeblich soll im kommenden Frühjahr mit einer großen Sanierung des Hauses auf unserer anderen Seite begonnen werden. Ich musste schwer schlucken und wäre jetzt ausnahmsweise mal froh über Fake News. Leider ist der Mann normalerweise gut informiert.
A: Das ist ja wie auf den deutschen Autobahnen! Gerade ein Abschnitt beendet, schon ist der nächste dran. Absolutes Paradebeispiel: Die A1, die knapp 750 km lang ist und von der Ostsee in Schleswig-Holstein bis nach Saarbrücken führt. Allein im Abschnitt Köln – Hamm/Bergkamen habe ich sie in 20 Jahren nicht ein einziges Mal baustellenfrei erlebt… Genauso wie die A3 zwischen Würzburg und Frankfurt. Und zu meinem großen Entsetzen gesellt sich jetzt auch die A9 München-Nürnberg dazu, die jahrzehntelang baustellenfrei und durchgängig 3-spurig war – zumindest in meiner glattgebügelten Erinnerung. Aber irgendwann muss doch auch mal was fertig werden! Dann haben alle Autobahnen an den knubbeligsten Stellen mindestens drei Spuren, die Brücken sind saniert und Asphaltschäden durch Frost gibt es nicht mehr, weil es keine klirrend-kalten Winter mehr gibt! Oder?
Auf unseren zahlreichen Fahrten durch Italien gab es – gefühlt – nicht halb so viele Baustellen. Dort sind die Autobahnen auch leerer und auf Dauer recht kostspielig, was einer der Gründe für die magere Frequentierung sein wird. Dafür hatten die Italiener die „L’autostrada infinita“, die nicht so heißt, weil sie mit ihren gerade mal 443 Kilometern von Salerno, südöstlich von Neapel, bis nach Reggio Calabria an der Stiefelspitze unendlich ist, sondern weil der Bau beinah bis ins Unendliche ging, genauer gesagt 54 Jahre. Um diese Langzeitbaustelle, die angeblich als Sinnbild all dessen gilt, was in Italien nicht funktioniert, ranken sich mittlerweile die wildesten Geschichten rund um Misswirtschaft, Korruption, Kriminalität, Mafia & Co.
Die längste Autobahn in Deutschland und sogar in Europa ist übrigens die A 7, die an der dänischen Grenze beginnt und an der österreichischen endet, satte 960 km. Das weiß ich seit dem letzten Wochenende, an dem unsere vierköpfige Familie plus Hund durch die halbe Republik gefahren ist und wir vor lauter Staufrust eine Art Quiz im Auto gestartet haben. Früher ging es da eher um das Raten von Autokennzeichen und die Hauptstädte Europas oder seltene Tiere auf der Welt. Man kann die Trödelei mit Tempo 60 in den immer länger werdenden Baustellen also durchaus sinnvoll nutzen. Sonst würde man wohl auch bekloppt werden.
M: Ich bin ja momentan viel mit dem Zug unterwegs, auch da ist man übrigens vor Staus nicht gefeit. Der Grund fast immer: Baustellen, die auch die ICEs der neuesten Generation zum Abbremsen und Vorbeizockeln zwingen. Aber dass das Streckennetz der Bahn erneuert bzw. erweitert werden muss, sehe ich ein – was mir bei den Autobahnen nicht immer gelingt – und verkneife mir das Gemecker.
Interessant finde ich, ganz nebenbei, dass ich ein entspannteres Verhältnis zu Baustellen bekommen habe, seit ich darüber schreibe. Inzwischen sehe ich es so, dass in einer Großstadt, die sich ohnehin gerne herausputzt, eben einfach immer irgendwas zu reparieren und zu verbessern ist – ganz ähnlich wie bei mir zu Hause. Da ist ja auch immer mal wieder eine Türklinke locker, eine Glühbirne kaputt, der Wasserhahn verkalkt, ein paar Bilder hängen schief, an der Bluse fehlt ein Knopf und die Kommodenschublade klemmt auch schon seit Ewigkeiten. Und nächstes Jahr müsste die ganze Wohnung dringend komplett gestrichen werden. Das ganze Leben ist eben eine Baustelle.
Und immerhin ist gestern am Nebenhaus unter großem Getöse das ganze Gerüst abgebaut worden, was ich für ein gutes Zeichen halte: Es geht, so hoffe ich zumindest, vorwärts bzw. aufs Ende zu. Vielleicht kriegen wir dann ja ein paar ruhige Monate, bevor die nächste große Renovierung anfängt?
A: Die Welt ist nie fertig, genauso wenig wie die Stadt, das Haus, die Wohnung oder man selbst. Ist einfach so. Und wäre ja auch furchtbar langweilig auf Dauer. Ich stelle gerade fest, dass ich mich beim „Darüber-Schreiben“ auch nicht mehr so ausgeliefert fühle. Und DAS fühlt sich jetzt beinah so gut an, dass ich glatt überlege, ein Baustellentagebuch anzulegen. Im Grunde macht man ja nichts anderes, wenn man den eigenen Hausbau fotografisch dokumentiert, oder meine Freundin den Fortschritt der Mega-Baustelle am Elisabethmarkt in Bildern festhält, die sie sich am Ende dann vielleicht auch noch in den Flur hängt.
Wenn man sich irgendwie als klitzekleines Teil des Ganzen begreifen kann, ist der Leidensdruck anscheinend etwas kleiner. Der frisch aufgerissene Gehsteig eine Straße weiter kommt aber sicher nicht in das Tagebuch, die Baustelle ist nämlich völlig überflüssig in meinen Augen!