M: Neulich stand ich im Supermarkt wartend an der Kasse, als plötzlich ein Mann hinter mir empört rief, „also das ist ja wohl eine Unverschämtheit!“ Ich zuckte zusammen: Hatte ich mich vorgedrängelt? Den Abstand nicht eingehalten? Was hatte ich falsch gemacht? Gar nichts, stellte sich heraus, der Mann hatte telefoniert, mit dem neuerdings üblichen kabellosen Knopf im Ohr.
Menschen, die allein unterwegs sind, dabei aber laut reden, haben mich anfangs sehr verwirrt. Ich dachte zunächst, na gut, der/die führt Selbstgespräche, mach ich ja auch manchmal, bis ich es endlich kapiert hatte.
Früher konnte man Leute, die unterwegs telefonierten, an ihren Kopfhörern erkennen oder an den dünnen Kabeln der In-Ear-Kopfhörer. Tempi passati, Wireless Earbuds – so heißen die Knöpfe im Ohr im Branchenjargon – sind das Gebot der Stunde. Ich kann sie gar nicht benutzen, entweder fallen sie aus meinen Ohren raus oder sie tun mir weh. Ergo benutze ich bisher immer noch, ganz old school, On-Ear-Kopfhörer.
„Bisher“ bedeutet: Ich habe mir fest vorgenommen, in Zukunft das Handy nicht mehr ständig griffbereit zu haben, sondern es lautlos zu stellen und nur ab und zu mal draufzuschauen. Oder noch besser: es auch mal zuhause zu lassen, wenn ich z.B. spazierengehe. Es überhaupt weniger zu nutzen, was sich heutzutage auf neudeutsch „Digital Detox“ nennt. Es hat mich nämlich schon erschreckt, wieviel Zeit ich durchschnittlich an meinem Mobiltelefon verbringe, und zwar nicht beruflich, sondern rein privat.
Falls du jetzt wissen möchtest, woher ich diese Nutzungszeit kenne: Ich entnehme sie einer neuinstallierten App auf meinem Handy – was schon wieder lustig ist…
A: Diese App wär auch was für mich! Selbst wenn ich mich (noch) nicht zu den komplett Abhängigen zähle. Außer in der Zeit der US-Wahl, da hatte ich morgens kaum die Augen auf und glotzte schon in den blinkenden Bildschirm, der mich mit allerlei Eilmeldungen versorgte. Danach kam dann die dringend notwendige Entwöhnungsphase, die mir anfangs recht leicht fiel, weil mir der allererste Blick ins Handy ja gar nicht gutgetan hatte.
Im Moment koche ich bewusst morgens Tee, gehe mit dem Hund raus und dann auch noch auf meine Yogamatte. Beunruhigend ist dabei, dass ich mich wirklich dazu disziplinieren muss, weil in meinem Kopf dann Wiederholungsschleifen laufen, die mir einsoufflieren, dass ich ja eine wichtige Nachricht von wem auch immer verpassen könnte. Und auch bei der Einstufung von wichtigen und unwichtigen Mitteilungen entbrennt in meinen Synapsen ein hitziger Streit. Ich bin mir also zumindest bewusst, dass das Handy mir – selbst wenn ich es nicht aktiv nutze! – wertvolle Zeit stiehlt. Mehr noch: Es manipuliert mich. Wie schnell stimme ich innerlich einer Meinung zu, die über irgendein Nachrichtenportal verbreitet wird. Das merke ich spätestens dann, wenn es einen sehr kontroversen Kommentar zu einem bestimmten Thema gibt, dem ich eigentlich auch zustimmen könnte. Und da ich mir nicht die Zeit genommen habe, mir selbst eine Meinung zu bilden, hüpfe ich von einem Extrem zum anderen. Was mich dann aber sehr schnell darauf zurückwirft, was das eigentlich mit mir und meinem Leben zu tun hat? Und ob es irgendjemandem hilfreich ist, wenn ich mir den Kopf über Umstände zerbreche, an denen ich zum jetzigen Zeitpunkt nichts ändern kann? Jetzt könnte man hier das Gesetz der Resonanz bemühen und behaupten: Alles, was einem begegnet, hat mit einem selbst zu tun. Das ist bei der Fülle der Nachrichten, die über digitale Medien laufen, aber schier unmöglich und deshalb möchte ich da einen Filter einbauen. Also mir selbst zutrauen, zu entscheiden, dass ich bestimmte Zusammenhänge einfach nicht wissen muss.
Das alles sind jetzt nur Überlegungen zu irgendwelchen Nachrichten. Da kommen ja noch alle beruflichen und privaten Chats, Gruppen-News, Feeds, Posts, Zoom & Teams-Sessions, Anrufe, Bilderfluten, vom Handy selbst generierte Rückblicke, empfohlene Fotos & Playlists, whatever dazu! Bei all dem Chaos, das jetzt grad – durch das reine Drübernachdenken – in meinem Kopf ist, habe ich sofort das ganz dringende Bedürfnis, mich in eine Schaukel zu setzen und in den Himmel zu schauen.
M: Wie sehr ich von den digitalen Medien abhängig bin, hab ich neulich erst wieder gemerkt, als mein Internet einen halben Tag lang ausfiel. Ich fühlte mich total vom Weltgeschehen abgeschnitten: Kein Internet, keine Mails. Kein Fernsehen, kein Serienstreaming, kein Digitalradio, kein E-Book, kein Surfen auf dem Handy… ich bin regelrecht in Panik geraten. Bis ich dann zur Vernunft kam und gedacht habe: Wenn mich jemand wirklich dringend erreichen muss, wird er das schon schaffen. Und siehe da: Als das Netz wieder funktionierte, hatte ich nichts Wichtiges verpasst.
Andererseits kann ich kaum noch arbeiten ohne digitale Medien, oder doch sehr viel schlechter. Ich erinnere mich noch an die Zeiten vor etwa 30 Jahren, als ich die Drehbücher, mit denen ich gearbeitet habe, per Post oder Parcel Service zugeschickt bekam und meine Skripte auch auf dem gleichen Weg retournierte. Das war schon um einiges lästiger als heute, wo ich meine Arbeit mit einem Mailklick weiterschicke. Ich möchte diese technischen Errungenschaften also auf gar keinen Fall mehr missen, mich aber auch wiederum nicht von ihnen beherrschen lassen. Wobei ich natürlich selbst daran schuld bin, denn niemand zwingt mich zum Beispiel, mein Handy ständig – auch nachts – eingeschaltet zu lassen und es zu jedem Einkauf oder Spaziergang mitzunehmen. Doch ich denke immer, es könnte mich ja dringend jemand sprechen wollen, meinen Kindern könnte ein Unfall passieren oder ich hätte selber einen und würde dann hilflos im Englischen Garten herumliegen (ich WEISS, dass das totaler Unfug ist!) oder der Hund könnte gebissen werden und ich müsste mit ihm schnurstracks in die Tierklinik… ich male mir zum Teil richtige Horrorszenarien aus, meine Phantasie kennt da kaum Grenzen. Und außerdem wäre es ja auch möglich, dass mir unterwegs ein tolles Fotomotiv begegnet, für unseren Blog zum Beispiel, und ich unbedingt ein Bild davon machen oder dringend etwas googeln will… und schon stecke ich es wieder ein! Das Problem sind also nicht die Medien – ich bin es!
A: Das Maß für alles, was man so tut und lässt, hat man letztendlich selbst in der Hand, ja. Auf der anderen Seite geht heutzutage aber auch nichts mehr OHNE digitale Medien. Mit Corona als Beschleuniger. Letztes Jahr um diese Zeit habe ich noch nicht im Traum daran gedacht, Yogaklassen ausschließlich zu streamen! Und viele meiner Kolleg*innen genauso wenig. Keine Adjustments, also Hands-On bei den Teilnehmern, kaum Korrekturen, dafür noch präzisere Angaben & Ansagen und so gut wie alles selbst vormachen. Das ist eine ganz andere Herausforderung. Aber erstaunlicherweise ist es möglich, über den Bildschirm die Schüler und Praktizierenden zu erreichen. Selbst eine gemeinsame Meditation in der Stille gelingt, da man auch über einen Screen mit einleitenden Worten und Klangfarbe eine gute Atmosphäre schaffen kann, die zudem Menschen weltweit auf einen gemeinsamen Bildschirm, in eine gemeinsame Community-Blase bringt. Meine Freundin aus Australien konnte plötzlich in meine Yogaklasse kommen, meine Verwandtschaft aus den Staaten, Schüler aus meinem ehemaligen Yogastudio. Alle isoliert in ihren Wohnungen und Häusern und doch beieinander… Meine Streaming-Termine (und nicht nur die) ploppen jetzt auch in meinem Outlook-Kalender auf, so dass ich meinen Old-School-Tischkalender eigentlich gar nicht mehr bräuchte, zumal man die zum Jahreswechsel ja nirgendwo im Laden erwerben konnte und sie im Netz schlichtweg ausverkauft waren.
Ich habe trotzdem noch einen zum Anfassen erstanden und freue mich jeden Tag über Einträge, die ich dann im realen Leben umsetzen kann. Heute begeistert mich eine kurze Notiz, die da lautet: „Wurmkur für Carlos“. Das bedeutet: Den Schreibtischstuhl und damit den Rechner verlassen, die Packung mit den Tabletten im unaufgeräumten Schrank suchen & finden, den Schinken aus dem Kühlschrank zum Umwickeln holen, dem Hund gut zureden, ihm das Ding geben, ihn loben und ganz wichtig: Streicheln. Einfache Dinge aus dem wahren Leben halt! Und fast alles aus dem Bereich haptische Wahrnehmungen! Wertvoller denn je…
M: Lustig, dass deine australische Freundin jetzt in deine Yoga-Klasse geht! Wäre ohne Corona undenkbar. Mir fällt auch auf, dass die Pandemie die Phantasie vieler Leute so anregt, dass Faszinierendes entsteht. Ein Bekannter von mir, Organist von Beruf, hat an einem Experiment teilgenommen, nämlich eine Komposition aufzunehmen für vier Orgeln, Bläser und Pauken. Da haben vier Organisten in Peking, Iowa, Aarhus und München ihre Stimmen separat aufgenommen (ging nur mit Metronom am Ohr, damit alle vier das gleiche Tempo gespielt haben), Bläser und Pauken wurden separat aufgenommen und das Ganze dann zusammengemixt. Ich will das Stück unbedingt hören, wenn es fertig ist, ich stell’s mir sehr spannend vor. Überhaupt faszinieren mich die technischen Möglichkeiten, die wir haben, schon sehr, auch wenn ich fast keine Ahnung davon habe (vor allem aus Denk-Faulheit). Klar nerven die vielen und zum Teil langen Video-Konferenzen, die ich hatte und habe, schon auch, andererseits bin ich nicht unglücklich, dass ich nicht für jede Besprechung quer durch die Stadt fahren muss und wieder zurück. Spart viel Zeit. Und Nerven auch.
Ich bin seit Weihnachten übrigens noch ein bisschen mehr abhängig vom Internet als zuvor, und das kam so: Meine kleine Stereoanlage war kaputtgegangen und ich habe überlegt, mir eine neue zu kaufen. Als ich das meinen Kindern erzählte, erntete ich ungläubig-amüsierte Blicke: „Wozu brauchst du denn so ein Ding?“ Und als ich sagte, „um CDs zu hören, übrigens wünsche ich mir zwei von euch“, lächelten sie mich nachsichtig an und sagten, „okay, du kriegst deine Musik, aber ein bisschen anders. Wir machen das schon.“
Zu Weihnachten bekam ich von den beiden dann ein sehr stylishes Gerät überreicht, nämlich einen Bluetooth-Lautsprecher bester Qualität, über den ich meine Musik vom Handy aus abspielen kann. Und da ich zu dem Lautsprecher auch noch ein Abo für einen Audio-Streaming-Dienst bekam, bin ich jetzt allerbestens ausgerüstet. Sämtliche CDs, die ich besitze, finde ich auch in meiner Audio-Bibliothek, und die Qualität des Bluetooth-Lautsprechers schlägt jeden CD-Player. Aber ich brauche halt Internet…
A: Ich hasse es, von etwas abhängig zu sein! Und finde es auch ganz gruselig, eine Abhängigkeit von irgendwas bei anderen zu beobachten, weil sie oft so dringlich, irrational ist und ja – leider auch oft pathologische Formen annimmt.
Ich erinnere mich an ein Phantasy-Computer-Spiel vor ungefähr 10 Jahren, das der Älteste eine Zeit lang mit Leidenschaft spielte, weil so ziemlich JEDER in der Jahrgangsstufe es auch tat. Sie trafen sich – für diese Zeit noch recht ungewöhnlich auf dem Lande – also nicht real, sondern in diesem Spiel auf dem Rechner mit ihrem selbst erstellten Charakter, begannen als Novize und erwarben über Talentkarten viele Fähigkeiten, schlüpften in Kostüme & Rüstungen, konnten Feen & Magier werden, Schlachten gewinnen, unbezwingbar sein und auf Phantasietieren wie Drachen reiten, statt auf plötzlich langweiligen Land-Eseln oder Pferden, die vor der Haustür standen. Es war der Renner und alle Mütter tief beunruhigt, weil auf einmal die Verkleidungskiste im Spielkeller zu blieb, die Kinder nicht mit nassen Füßen, aufgeschürften Knien und Rotznasen nach Hause kamen, sondern im ungemütlichen und kalten Souterrain-Computerzimmer brüllten und schimpften und nicht selten mit hochrotem Kopf den Raum verlassen mussten, weil sie komplett die Zeit vergessen hatten. Die üblichen Rollenspiele gab es also virtuell und das Ganze in einer offenen Welt auf einem internationalen Server, was bedeutete, dass zu jeder Uhrzeit jemand online war.
Körperlich waren sie vor dem Rechner natürlich nicht gefordert und deshalb mussten sie danach meist ganz schnell auf das große Trampolin im Garten, um all die Emotionen im Körper regelrecht rauszutoben, weil diese sich durch null Bewegung in einem kleinen Energieknäuel in ihnen aufgestaut hatten. Dieses Spiel verlor irgendwann an Attraktivität (es existiert aber immer noch!), es kamen andere, aber reale Treffen und Abhängen mit Freunden stand immer noch an Top One. Wenige Jahre später sah das dann schon anders aus – ich kenne Eltern, deren Kinder sich gar nicht mehr richtig begegnen wollen. Das finde ich dann schon sehr spooky…
M: Das Problem kenne ich leider nur allzu gut. Mein Sohn war als Pubertierender regelrecht süchtig nach einem bestimmten interaktiven Computer-Spiel, ich glaube, es war zu dieser Zeit das Allerwichtigste in seinem Leben, die Schule hat ihn sowieso nicht interessiert und alles andere, bis auf seine Kumpel, auch kaum. Es gab deshalb immer wieder Zoff, zum Beispiel, wenn wir abends gemeinsam beim Essen saßen, er aber unbedingt an den Rechner wollte, weil er zu einer bestimmten Uhrzeit zum Spielen verabredet war. Mich hat das wahnsinnig gemacht, obwohl (oder gerade weil?!?) ich auch zur Sucht neige, was Spielen betrifft. In meiner wachsenden Verzweiflung hab ich ihm eines Tages sogar den Strom abgeschaltet, was natürlich einen riesigen Krach zur Folge hatte, wir haben uns richtig laut angeschrien, ich denke heute noch nicht gern daran.
Heute hängt er in seiner freien Zeit auch noch viel am Computer, er spielt auch noch, aber hauptsächlich ist er auf allen möglichen Online-Portalen von Zeitungen und Zeitschriften unterwegs, er liest neben den deutschen Seiten die Washington Post und die New York Times und The Atlantic und noch einige andere. Deswegen hat er, was tagesaktuelle internationale Politik betrifft, auch wesentlich mehr Ahnung als ich, die ich das Internet als Informationsmedium weniger nutze; dafür lese ich noch ganz altmodisch jeden Morgen die Tageszeitung, was meine Kinder nur online tun. Kommt aber am Ende auf dasselbe raus.
A: Die Tageszeitung – in den Händen haltend – zu studieren regt bei mir deutlich mehr Sinne an, als sie von einem kalten und glatten Bildschirm abzulesen. Interessante Artikel kann ich rausreißen, abheften oder weitergeben. Auch wenn ich solche Zeitungsschnipsel in die Hand gedrückt bekomme, lese ich sie eher, als wenn man sie mir digital schickt. Weil sie mich dann von irgendeinem Ablage-Platz aus immer wieder ansehen, während die Online-Versionen im digitalen Orkus meines Rechners oder Handys verschwinden. Ähnlich verhält es sich mit handschriftlichen Aufzeichnungen auf Zetteln, in Notizbüchern, Kladden… Anhand meiner Schrift lässt sich auch gut erkennen, in was für einer Stimmung ich die Sätze oder Wörter formuliert habe.
Ich mag auch immer noch altmodische abgegriffene Postkarten mit landestypischen Briefmarken, die früher ja meist erst nach der Wiederkehr der Freunde oder Verwandten bei einem ankamen. Im eigenen Urlaub hab ich mich – noch ohne Smartphone – wie in einer Art Vakuum gefühlt. Nicht erreichbar zu sein hieß, eine wunderbare Lücke gefunden zu haben. Architektur, Menschen, Landschaften mit allen Sinnen wahrzunehmen, ohne sie gleich zu digitalisieren und um die halbe Welt zu schicken. Selbst das Rauschen des Meeres kann man heute über Video weiterleiten. Nur mit den Gerüchen klappt es – dem Himmel sei Dank – noch nicht.
Heutzutage wäre es also harte Arbeit, wirklich in einem anderen Land SEIN zu können, ohne über Nachrichten, Bilder und Anrufe mit den Gedanken schon wieder überall anders zu sein. Aber wenn man sich zu einem Urlaub ohne Handy & Tablet entschließen würde, würde man sich vermutlich Unverantwortlichkeit und dergleichen mehr vorwerfen lassen müssen. Früher musste man nur der Versuchung widerstehen, sich nicht die olle Bildzeitung vom Vortag an der Schmuddel-Strandbude zu kaufen, um weiter in der herrlichen Lücke verweilen zu können.
M: Wie sehr freue ich mich heute, wenn ich, was wirklich selten vorkommt, mal wieder eine Ansichtspostkarte aus dem Briefkasten fische (im letzten Sommer waren es immerhin zwei, was schon einen Rekord bedeutet). Noch toller: Ein „richtiger“ Brief, am liebsten handgeschrieben und mehr als eine halbe Seite lang. Mich rührt das immer sehr, ich stelle mir dann die Mühe vor, die sich der Absender bzw. die Absenderin für mich gemacht hat: Papier raussuchen und einen Stift, sich hinsetzen, überlegen, schreiben, den Brief eintüten, frankieren, zum nächsten Briefkasten tragen oder sogar zur Post, wenn wieder keine Marken mehr im Haus sind… Eine Email ist definitiv einfacher und geht schneller. Aber Briefe – es dürfen auch gerne Karten sein, wenn mehr darauf steht als „Herzlichen Glückwunsch, Dein X“ – sind mir sehr wertvoll; ich besitze mehrere große Kartons mit der Aufschrift „Privatpost“ mit Briefen aus mehreren Jahrzehnten, die ich hüte wie einen Schatz. Ab und zu setze ich mich auch hin und lese sie wieder, und immer wieder freue ich mich. Und nehme mir vor, in Zukunft auch wieder öfter mal einen Brief zu schreiben anstatt eine Mail oder eine Messenger-Nachricht. Was ich dann leider viel zu selten mache.
Ferien ohne Postkarten waren früher kaum denkbar. Ich erinnere mich, dass wir spätestens gegen Ende der ersten Woche von Familienurlauben zusammensaßen und unsere Karten schrieben, damit sie auch vor unserer Rückkehr bei den Empfängern ankamen. Zu diesem Zweck nahm meine Mutter ihr zerfleddertes Adressbuch mit, das sie akribisch durchackerte, um ja niemanden zu vergessen. Besonders alleinstehende Tanten kamen in den Genuss einer Karte, denn „die freuen sich immer besonders“ (für die wurde übrigens auch an ihrem Geburtstag ins Telefon gesungen).
Ich habe selbst bestimmt schon seit zehn Jahren keine Ansichtspostkarte mehr geschrieben, sondern schicke wie alle anderen auch höchstens ein Foto per Messenger oder Instagram. Ist auch okay, finde ich. Aber eine Karte oder ein Brief, so richtig zum Anfassen, ist einfach noch schöner.
A: So eine Ansichtskarte ist schlicht und ergreifend anwesend, hat also für mich eine andere Art von Präsenz. Man kann sie über viele Sinne begreifen: Sehen, fühlen, riechen. Man könnte sie sogar schmecken, wenn man wollte… Einen digitalen Gruß nehme ich eher rational wahr und muss mir die Atmosphäre und Stimmung selbst dazu basteln. Und dann bin ich schon wieder im Kopf. Der läuft auf Hochtouren, weil es dort den ganzen Tag vor sich hinbrabbelt – das finde ich anstrengend, zumal meine sinnliche und fühlende Wahrnehmung mehr und mehr verkümmert.
Und da ja im Moment sowieso die Fastenzeit ein Thema ist, ist mein eigener Wunsch nach weniger auch größer. Zudem ist die Motivation grad hoch, weil es irgendwie ein kollektives Fasten ist. Irgendwo auf der Welt verzichtet irgendjemand auf irgendwas. Das ermuntert mich, mein persönliches digitales Fasten zu beginnen:
Ich streichle öfter den flauschigen Hund, der neben meinem Schreibtisch liegt, schaue aus dem Fenster statt auf irgendeinen Bildschirm, mache eine körperliche Übung (Kniebeuge, Krähe, Drehung auf dem Stuhl, Schreien, in der Nase bohren) statt nach einer neuen Nachricht auf dem Handy zu schauen, lese Koch-Rezepte vom Papier ab und schwitze alle Gewürze beim Kochen zunächst in Ghee oder Öl an, damit mir der Geruch intensiv in die Nase kriecht. Und und und… Hat alles nichts mit Verzicht zu tun? Stimmt!
Weil ich jetzt einfach mal versuche, den Gaul von hinten aufzuzäumen, indem ich die Zeit, die ich NICHT mit digitalen Geräten verbringe, verlängere und intensiviere. Dann muss ich auch auf nix verzichten, weil DAS im Kopf ja großen Widerstand auslöst, vielleicht sogar Empörung, Wut und (Verlust)-Angst – vor allem davor, nicht am Puls der Zeit zu sein.
Wenn ich nämlich auf etwas bewusst verzichte, würde das ja im Umkehrschluss auch bedeuten, dass ich genau das eigenlich brauche und vielleicht sogar süchtig danach bin. DAS gibt allem Digitalen aber eine ungeheure Macht und sooooo wichtig ist das doch auch alles wieder nicht, oder?