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Zum Mitnehmen

A: Pünktlich zusammen mit den ersten wärmenden Sonnenstrahlen entdecke ich auf Wiesen und Beeten nicht nur Frühling verheißende Krokusse, sondern auch allerlei Zeugs aus Hausständen, abgestellt auf Hausmauern und Fensterbänken oder gar hängend an Zäunen. Manches liegt bunt zusammengewürfelt in Kisten, anderes präsentiert sich solo vor Fenstern. Was nie fehlt ist ein handgeschriebener Zettel mit der Aufschrift „Zum Mitnehmen“, „Zu verschenken“ und dergleichen mehr.
Bücher begegnen mir am häufigsten, aber auch prächtige Klunker in Form von Halsketten habe ich schon gesehen (und mitgenommen!), Schuhe, Plastikspielzeug und jede Menge Undefinierbares.

Animiert das Frühjahr manche Menschen zum unkomplizierten Ausmisten von Dingen, die sie – aus welchen Gründen auch immer – nicht wegwerfen wollen? Oder hoffen sie, andere beglücken zu können mit Sachen, die sie nicht mehr mögen oder benötigen? Entledigen sich die Leute in deinem westlichen Schwabing anderer Dinge, als bei mir in Altschwabing? Und was würde man in Bogenhausen finden? Oder ist das kein Viertel für so was?

M: Ich vermute tatsächlich, dass in Bogenhausen weitaus weniger – falls überhaupt – solche Kisten auf den Straßen herumstehen; dort macht man sowas eher nicht. Ich denke auch, die Nachbarschaft dort würde sich sehr bald beschweren.
Hier hingegen findet man seit Corona- Beginn in jeder Straße Unmengen an solchen Kartons; kaum ist einer weg, taucht der nächste auf. Um die darin befindlichen Bücher tut es mir oft leid, denn ab dem nächsten Regenguss sind sie unbrauchbar und können nur noch in der Papiertonne landen. Andererseits – und ich gucke wirklich fast jedes Mal nach, denn Bücher hab ich nie genug! – sind die meisten Exemplare solche, die auch ich aussortiert hätte: Ratgeber à la „Resilienz erlernen“, Chick-Lit, veraltete Reiseführer, Krimis mit Spielorten von Norderney bis Berchtesgaden… Ganz selten fische ich mal ein interessantes Buch aus den Kisten, zuletzt waren es Loriots Gesammelte Werke.

Im Prinzip finde ich es ja nicht schlecht, gut erhaltene (!) Sachen, die man nicht mehr braucht, weiterzugeben. Leider aber verleiten die vielen Kartons mit noch nützlichen Dingen die Leute, auch ihren Sperrmüll auf die Straße zu stellen, um sich so die Fahrt zum Wertstoffhof zu ersparen: Bürostühle, Regale aller Art, Kleinmöbel, Matratzen, Computer, alte Ski, kaputte Wäschekörbe – all das lagerte allein im Umkreis von 100 Metern in den letzten Wochen hier auf den Gehwegen. Verständlicherweise nervt das die Anwohner, und sie machen ihrem Ärger mit an die Hinterlassenschaft geklebten Zetteln Luft, auf denen sie die Besitzer zur Beseitigung ihres Mülls auffordern. Ob das der Grund ist, warum die Sachen nach einer Weile verschwunden sind? Oder ist es doch eher so, dass sich die ohnehin geplagten Männer von der Müllabfuhr irgendwann erbarmen? So wie sie auch bis weit in den Februar hinein die Weihnachtsbäume entsorgen, die sich auf unserem Platz mannshoch stapeln?

A: Zur überdimensionierten Sperrmüllaktion ist hier ums Eck noch nichts entartet. Die Kisten oder Einzelstücke, die mit den ersten Sonnenstrahlen auftauchen, finden anscheinend schnell einen Abnehmer: Bunte Kinderbücher wandern vermutlich schnurstracks in die zahlreichen Kinderwagen, die hier über die Gehsteige geschoben werden, auch Standard-Belletristik bleibt kein Kistenhüter und sogar der Milchaufschäumer und die wirklich hässlichen Kommodengriffe aus Naturkordel aus der gestern frisch platzierten Kiste gleich gegenüber waren innerhalb eines Tages weg.
Ich habe ja vor zwei Jahren die schon erwähnten – aufwendig gearbeiteten – Malaketten mitgenommen, die momentan meinem großen Buddha um den Hals hängen, weil sie ansonsten – wie mein gesamter Schmuck (und das ist beileibe nicht viel) – ein trostloses Schattendasein in meinem Schrank führen würden. Ich mag so große Ketten an anderen, aber nicht an mir, wollte aber immer mal welche haben, um festzustellen, dass sie mir wirklich nicht stehen. Jetzt gehören sie meinem Buddha und er wirkt sehr glücklich damit! Die Malas erinnern mich an meine ersten Wochen hier in München, als ich mich noch sehr darüber wunderte, dass so was Wertiges zum Mitnehmen einfach an der Straße steht.

Vom Lande kenne ich das so in der Form nicht. Da gab es nur diesen klassischen Sperrmüll, den man mit einer Karte von der Stadt beantragen musste. Wenn dann der ganze Pröll aus Garage und Keller vor dem Haus stand, hatte sich das im Dorf blitzschnell rumgesprochen und wenn es anfing zu dämmern, schlichen die ersten Gestalten am Haus vorbei und nahmen sich eine große Holzlatte, eine alte Lampe oder einen Stuhl mit. Manchmal vermehrte sich der Sperrmüll auch über Nacht und am Morgen standen dann plötzlich alte Bollerwagen oder kaputte Räder dabei. Da haben wir dann wild spekuliert, wem das heimlich Abgestellte vorher gehörte und uns darüber gewundert, dass die Menschen nicht einfach mal gefragt haben, ob sie was dazustellen oder was mitnehmen können, weil man sich in so einem Dorf in der Regel ja kennt oder zumindest schon mal über den Weg gelaufen ist.

M: Als wir vom Land zurück nach München gezogen sind vor über 20 Jahren, haben wir das auch erlebt: Wir hatten die Sperrmüllabfuhr bestellt, die ungefähre Menge an Kubikmetern angegeben und das Zeug am Vorabend des vereinbarten Tages an die Straße gestellt. Damals hatten wir einen Nachbarn, der eigentlich selber schon Haus, Keller und Schuppen gerammelt voll hatte (und darüber auch immer wieder klagte), gleichzeitig aber immer wieder neue Sachen anschaffte, besonders solche, die er bei uns gesehen hatte. Einmal bekam ich zum Beispiel einen Hängesessel für den Garten geschenkt, den musste er auch sofort nachkaufen.
In der Sperrmüll-Nacht lief er nun bis weit nach Mitternacht zwischen unseren Häusern hin und her, um fast alles, was wir aussortiert hatten, zurück zu sich zu schleppen, auch Dinge, die er selbst bereits doppelt und dreifach besaß. Wir haben ihn nicht daran gehindert, sondern mehr oder weniger amüsiert zugesehen. Der Effekt war allerdings, dass die Leute von der Sperrmüll-Abfuhr, die am nächsten Morgen kamen, nur den Kopf über uns schüttelten, weil kaum noch etwas abzuholen war, obwohl wir eine große Menge angegeben hatten. Bezahlen mussten wir den Betrag für die ursprünglich angegebenen Kubikmeter natürlich trotzdem.
Ich habe mich schon immer gefragt, was Menschen dazu treibt, Berge an Besitz anzuhäufen, den sie eigentlich gar nicht brauchen… wer hat zum Beispiel schon Verwendung für drei Heckenscheren?!? Wo wir doch alle nur zwei Hände haben?!?
Mein Ex war (und ist vermutlich) auch so ein Jäger und Sammler; sobald er irgendwo einen Container sah, musste er hineinspinxen oder gar klettern und alle nützlichem Sachen herausholen und nach Hause schleppen. „Irgendwann können wir das bestimmt gebrauchen“, war die stereotype Antwort, wenn ich dagegen protestierte. Hab ich nie kapiert und tue es auch heute nicht.

A: Wenn man lange genug wartet, gibt es bestimmt diesen Moment, in dem man irgendwas für was auch immer gebrauchen kann. Aber was ist mit den Monaten und Jahren davor, in denen man das Aufbewahrte nicht nutzen konnte? Der Zeit also, in der ES – wie vieles andere – einen Platz auf dem Speicher, im Keller oder der Garage besetzt hat, man es von einem Ort an den anderen verräumt hat, es immer wieder anschauen musste und darüber nachgedacht hat, was man damit eigentlich (noch) anstellen soll?
Als ich mein eigenes Yogastudio eröffnete, engagierte ich eine Coach, die mir bei der Unternehmensgründung mit professionellem Rat den Start erleichtern sollte. So ganz nebenbei räumte sie dann auch in unserem großen Haus auf. Sie kam an einem verregneten Morgen mit einer Wagenladung transparenter Kisten in allen Größen und wir starteten in meinem Arbeitszimmer, das an zwei Wandlängen komplett mit Regalen gesäumt war, die bis zur Decke mit Büchern, Fotoalben, Gesellschaftsspielen, Ordnern und dergleichen mehr vollgestopft waren.
Von meinem Schreibtischplatz in der Mitte des Raumes aus gesehen türmte sich also hinter meinem Rücken meine Kindheit, meine Studentenzeit und meine damals aktuelle Zeit als Selbstständige, Mutter und Ehefrau in Form von gesammeltem Zeugs auf.
Der Blick in diese vollgestopften Regale war wie ein ewiges Mahnen: Ich muss mal aufräumen, weil ich eigentlich kaum noch was wiederfinde und 90% dessen, was ich da sehe, mich in der Vergangenheit hält. Gut, dass wenigstens der Blick von meinem Schreibtisch aus unverstellt war und über drei bodentiefe Fenster direkt in den Garten führte.
Zwei Wochen später standen allein sechs Umzugskisten voll mit Büchern (u.a. sündteure Fachliteratur zu Germanistik, Philosophie, Pädagogik etc.) in unserer Garage, die niemand haben wollte: Keine Stadtbücherei, keine Schule und keine Uni. Und klar, es kam der Tag, an dem mich irgendjemand nach einem dieser Bücher oder nach einem alten Brettspiel fragte. Mein erster, jahrelang trainierter Gedanke war: „Siehste! Hättest du mal nicht…“ Um dann nicht immer wieder auf das Gleiche reinzufallen, stellte ich fest, dass ich nun exakt zwei Möglichkeiten hatte, in Zukunft damit umzugehen: Mich grämen über das „Verlorene“ oder froh sein, dass der Weg nun für eine andere Herangehensweise frei war. Nachdem ich mich für Letzteres entschied, fragte mich erstaunlicherweise niemand mehr nach den Dingen, die da jahrelang ihr trostloses Dasein im Regal gefristet hatten. Nicht mal ich selbst.

M: Das ist wie Murphy’s Gesetz: Kaum hast du was weggeschmissen, kommt der Moment, wo du das Teil – nachdem es gefühlte 20 Jahre unnütz herumgelungert ist – endlich mal gebrauchen könntest. Hättest du es behalten, wäre es vermutlich nie dazu gekommen.
So wie du ärgere ich mich in solchen (ohnehin seltenen) Momenten überhaupt nicht. Was mich aber tatsächlich fuchst: wenn ich Sachen, von denen ich hundertprozentig weiß, dass ich sie besitze, nicht finden kann. So habe ich am vergangenen Wochenende Schränke, Kommoden, Schachteln, Truhen und den ganzen Keller akribisch durchforstet nach Material zum Sticken (Garn, Rahmen etc.); ich brauche das zwar nicht selber, habe es aber einer Stickerin in spe versprochen, die in ganz München keinen Handarbeitsladen mit einer halbwegs soliden Auswahl finden konnte, der geöffnet hat, sie hätte das Zeug also bestellen müssen. Beziehungsweise: sie musste es, denn nach ein paar Stunden erfolgloser Suche hab ich kapituliert und gebeichtet, dass ich – mal wieder! – voreilig war. Und offenbar noch schlampiger bin, als ich ohnehin schon vermutete. Ob die Tüte mit den Sticksachen jemals wieder aufgetaucht? Darauf bin ich wirklich gespannt!
Vorher aber werde ich definitiv mal wieder ausmisten, denn beim Wühlen durch Kisten und Kasten ist mir wieder viel überflüssiger Kram ins Auge gefallen, der in irgendwelchen dunklen Ecken sein trauriges Dasein fristet. Wie oft hab ich zum Beispiel in den letzten Jahren das sperrige Fondue-Set benutzt, dessen Topf immer so anbrennt? Werde ich die Lampen aus der vorletzten Wohnung jemals wieder irgendwo aufhängen? Und brauche ich wirklich mehr als zwei Bettdecken für Übernachtungsbesuch?

A: Du brauchst sie natürlich nicht. Und falls bei dir nach einer langen und fröhlichen Party (die mehr als fällig ist!) ein Matratzenlager aufgebaut werden sollte, kannst du dir die zwei Gäste-Bettdecken von mir leihen, die ich noch behalten habe von den mindestens fünfen, die ich in unserem Haus auf dem Lande hatte. Dieser große Umzug vor zwei Jahren war in puncto „Ausmisten“ nämlich das Beste, was mir in den letzten Jahren passiert ist.
„Wer fast nichts braucht, hat alles“ lautet doch der Titel der Biografie über Janosch – angeblich ein Zitat von ihm.
Meine längste und mir auf innigste verbundene Freundin aus alten Schulzeiten ist vor zwei Jahren aus ihrem großen Haus an der Westküste Australiens ausgezogen und mit nicht mehr als einer Wagenladung quer über den Kontinent an die Ostküste gefahren, wo sie jetzt lebt. Über 4000 km! Allein! „I am traveling light“ hat sie mir am Telefon gesagt. Und ich sah sie mit Leonhard Cohens Song auf den Lippen bei flimmernder Hitze durchs Outback über den endlosen National Highway A1 fahren, den ich mir vorstellte wie den California Highway 190 im Death Valley. Wenn man so unterwegs ist, sortiert sich das Leben ja oft und wird im günstigsten Falle noch mal übersichtlicher und klarer. Und man käme niemals auf die Idee, etwas „zum Mitnehmen“ an den Straßenrand zu stellen oder selbst was einzuladen. Es sei denn, es ist etwas wirklich Nützliches wie ein Leatherman, ein Wagenheber oder so. Oder meine Malaketten, mit denen man am Lagerfeuer 108 Mal ein Schutzmantra wiederholen könnte! Das schreib ich jetzt aber nur, weil ich diesen Dingern eine Daseinsberechtigung in meinem Haushalt geben möchte… Oder fallen die unter das „Schöne“ und „Wahre“ (mit dem man sich ja tunlichst umgeben sollte), wie die Kunst im Allgemeinen und Bilder etc. im Besonderen?

M: Wenn es nach Marie Kondo, dieser japanischen Expertin fürs Ausmisten, geht, darfst du sie auf jeden Fall behalten, weil sie dich ja offenbar glücklich machen; das ist für sie das wichtigste Kriterium. Mir leuchtet das einerseits schon ein, andererseits: welche Dinge machen einen schon wirklich glücklich?!? Bei Kleidung finde ich es noch relativ einfach zu sagen, welche Sachen ich wirklich gerne trage und wirklich vermissen würde. Aber was ist mit allem anderen?
Gestern stand ich vor einem meiner Einbauschränke, mit dem festen Vorsatz, auszumisten. Und scheiterte gleich am ersten Stück: meinem Fahrradhelm. Der mich definitiv nicht glücklich macht. Ich habe ihn mir gekauft nach dem Unfall einer Bekannten, die KEINEN Helm trug und sich – gottseidank nicht wirklich schlimm – am Kopf verletzte. Seither habe ich ihn wie oft aufgesetzt??? Genau: Kein einziges Mal! Entgegen aller Vernunft mag ich das Ding einfach nicht – aber wegschmeißen oder weitergeben?!? Es war teuer, und vielleicht werde ich ja doch noch eines Tages klug genug?
Das waren so die Überlegungen, die ich anstellte, als ich den Helm in der Hand hielt. Um ihn dann gleich wieder zurückzulegen… Leider ging es mir mit fast allen anderen Sachen im Schrank ähnlich. Lediglich zwei Handtaschen älteren Datums habe ich entsorgt, denn seit über zehn Jahren benutze ich ausschließlich eine einzige, die ich immer noch sehr mag. Und auch die nicht oft, denn im Alltag kommt bei mir eher der Rucksack zum Einsatz. Und da ich momentan wie wir alle kaum Gelegenheit zum Ausgehen habe, fristet auch die eine Tasche momentan ein recht klägliches Dasein.

A: Ich kenne etwas, das dich glücklich macht: Dein neues Klavier! Ich durfte miterleben, wie du in heller Vorfreude darauf warst. Das Glück, das man durch oder mit Instrumenten, aus denen man Töne oder gar komplexe Melodien hervorbringen kann, empfindet, lässt sich ja mit diesem einfachen Konzept der Selbstwirksamkeit erklären, die heutzutage wieder schwer in Mode ist. Auf einem Münchner Radiosender folge ich im Moment mit viel Vergnügen einer Samstagsshow, bei der ein Moderator seinem Partner jede Woche ein neues Instrument raussucht, auf welchem der Letztgenannte ein bekanntes Lied üben muss, das dann in der darauffolgenden Woche von einem Zuhörer erkannt wird. Oder eben nicht, wenn das Vorspiel grauenhaft schlecht war. Diesen Samstag war es die Nasenflöte, auf der vorgespielt wurde! Sehr kurzweilig, das Ganze. Und so herrlich einfach. Wie in Kindertagen.
Mein eigenes Klavier hat mich auch immer froh gemacht, selbst wenn es mal wochenlang nur unbenutzt als Staubmagnet im Raum stand, weil mir manchmal einfach die Zeit fehlte, darauf zu spielen. Denn im Geiste flog ich im Vorbeigehen über die Tasten und die Sonate oder die Nocturne erklang in meinem Kopf. Als Kind und Teenager hab ich mich oft direkt nach der Schule an das elterliche Klavier gesetzt und alles da „reingespielt“, was mich am Vormittag geärgert, mordsmäßig aufgeregt oder gefreut hat. Danach war ich bereit für den besten Teil des Tages. Ein Klavier wird auch selten verschenkt und zum Mitnehmen ist es schon gar nicht. Die Nasenflöte dagegen schon.
Aber ich habe noch nie ein Musikinstrument in diesen Kisten entdeckt…

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