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Bin ich Misophoniker?

A: Seit neulich krieg ich es nicht mehr aus dem Kopf: Dieses schlürfende Geräusch eines Menschen, wenn er den Mund am Kaffeebecherrand ansetzt und – egal ob das Getränk noch heiß oder schon fast kalt ist – die milchkaffeebraune Flüssigkeit in den Mundraum hochsaugt. Die klassische Konditionierung hat bei mir also zu 100% funktioniert: Ich höre das Geräusch auch ohne den kaffeeschlürfenden Menschen vor mir zu haben. Mehr noch, ich höre jetzt sogar bei anderen Leuten ganz genau hin und erwarte quasi ein ähnlich gruseliges Einsaugegeräusch. Da ich seit einem Jahr aber so gut wie gar nicht mehr in einem Café saß (was schlimm genug ist!), kann von einer Ausweitung des Konditionierungs-Experiments nicht wirklich die Rede sein. Wovon ich aber reden möchte, ist: Dieses Geräusch stört mich. Vielleicht triggert es mich sogar…
Beim Misophoniker (den ich nicht in der weiblichen Form gefunden habe) geht es noch etwas weiter, da sich das Wort aus „Misos“ für Hass und „Phone“ für Geräusch zusammensetzt, was dann wohl bedeutet, dass es ein Hass auf Geräusche ist. Kaugeräusche stehen laut Internet da an erster Stelle. Damit hab ich aber weniger Probleme, selbst wenn bei drei Männern um mich rum gleichzeitig die knusprige Schwarte vom Schweinsbraten im Mund kracht. Zudem muss sie das ja schließlich auch bei einem anständigen Krustenbraten hat mein Schwiegervater immer gesagt. Oder macht dich das vielleicht wahnsinnig?

M: Eine krachende Schweinebratenkruste stört mich auch überhaupt nicht, aber mit Essensgeräuschen hab ich schon auch so meine Probleme. Bei manchen Leuten knackt es ganz fürchterlich irgendwo im Kiefer, wenn sie kauen; dafür können sie nix, aber das Geräusch ist einfach gruselig. Schlürfen und schmatzen finde ich auch ganz furchtbar, letzteres vor allem, wenn es mit offenem Mund geschieht, so dass man den Speisebrei im Mund des Essenden sehen kann.
Was mich auch wahnsinnig macht: Dieses ganz leise Schnüffeln in regelmäßigen Abständen, dass manche Leute von sich geben. Wenn ich das höre, denke ich erst immer, derjenige lacht leise – so klingt es nämlich – bis ich merke: Nein, der oder die zieht die Nase hoch. Ich biete dann immer freundlich ein Taschentuch an, merke aber meistens: Es nutzt nichts, es ist ein Tick, eine Angewohnheit.
Das schlimmste Geräusch, das ich kenne, ist aber nach wie vor das Quietschen von Kreide auf einer Schultafel; sobald ich das höre, läuft es mir eiskalt über den Rücken; allerdings muss ich das nur noch selten hören. Ganz schlimm ist auch, wenn ein Messer über einen Teller schabt, da fahre ich innerlich richtig zusammen. Oder wenn jemand mit offenem Mund Kaugummi kaut.
Ich habe aber festgestellt: Mit zunehmendem Alter werde ich toleranter, was derlei Geräusche betrifft, ich schaffe es inzwischen, das einigermaßen auszublenden. Oder höre ich mittlerweile schon schlechter?

A: Meine Toleranz hält sich im Moment arg in Grenzen. Vor allem bei diesen Ticks, wie du sie so schön nennst. Manche halten sich seit Generationen hartnäckig in der Familie, wie zum Beispiel die furchtbare Angewohnheit, alle Fingerknöchel knacken zu lassen. Dazu gibt es sogar zahlreiche Studien, die sich damit auseinandersetzen, ob das den Gelenken schadet oder nicht. Meine Oma hat das immer behauptet (Rheuma! Arthrose!), um die Fingerknacker außer Gefecht zu setzen. Hat nur mäßig funktioniert, vermutlich aus dem gleichen Grund, weshalb Raucher nicht aufhören zu rauchen. Die Strafe folgt nicht auf dem Fuße.
Und irgendwann gab es dann die Geschichte von diesem Arzt, der 50 Jahre lang mindestens zweimal täglich mit den Fingern seiner rechten Hand geknackt hat – als er dann in Rente ging, ließ er beide Hände röntgen mit dem Ergebnis, dass zwischen den Fingergelenken der rechten und der linken Hand kein Unterschied bestand. Die Fingerknacker triumphierten und machen bis heute munter weiter.
Unser Hund hat neuerdings übrigens auch einen konditionierten Spleen. Er hat sich vor zwei Wochen mit seiner Münchner Steuermarke am Fressnapf verhakt, der wiederum Teil einer sogenannten integrierten Hundebar ist. Es gab ein Riesengeschepper auf der Loggia, weil Carlos das komplette Eisengestell über sich schleuderte, dabei die vor einem Jahr frisch gestrichene weiße Wand der Länge nach einsaute und sich selbst vermutlich den größten Schreck seines Lebens verpasste. Im Moment frisst er nur noch ohne Halsband und wenn einer von uns direkt neben ihm steht und ihm gut zuredet. Ich beschäftige mich also zurzeit mit den Fressgeräuschen unseres Hundes, die mich aber merkwürdigerweise viel weniger triggern als Fingerknöchelknacker oder Kaffeeschlürfer. Deshalb wird mir zuweilen vorgeworfen, dass ich unseren Hund ja wohl lieber hab, weil der alles darf!
Ja mei, es ist halt ein Hund und ich kann ihn ja schlecht bitten, leiser zu fressen…

M: Der arme Carlos, der muss ja total in Panik geraten sein! Und traut sich jetzt gar nicht mehr allein an sein Futter ran… das tut mir richtig leid. Ein Grund mehr, die Steuermarke, die wir vorübergehend von Roccos Geschirr abmontiert haben – sie klapperte immer so, das hat genervt – in der Schublade zu lassen.
Mich stören die Geräusche unseres Hundes komischerweise auch gar nicht, egal ob er schlabbernd frisst, wohlig grunzt oder im Schlaf geräuschvoll schnorchelt. Das gilt auch für andere Tiere, nicht mal das laute Schmatzen von Schweinen oder das Speichel-triefende Wiederkäuen von Rindern geht mir an die Nerven. Wohingegen es mich wahnsinnig macht, wenn eines meiner Kinder schmatzt oder schlürft. Wäre schon mal interessant herauszufinden, warum das so ist. Hören wir bei Tieren über unangenehme Geräusche hinweg, weil wir wissen, wir können sie sowieso nicht erziehen, ihnen jedenfalls keine Tischmanieren beibringen? Müssen sich die Kinder (nicht nur) beim Essen benehmen, weil es uns wirklich wichtig ist oder doch eher deshalb, weil die gesellschaftliche Konvention es erfordert? Ist die ja bei jedem Menschen anders ausgeprägte Misophonie in unseren Genen schon angelegt oder ist sie erworben durch bestimmte Erfahrungen, die ein Geräusch mit einem unangenehmen Gefühl verknüpfen, das schlagartig wieder auftaucht, sobald man Fingerknacken oder Kaffeeschlürfen oder quietschende Kreide auf einer Tafel hört? Und wieso zum Kuckuck sind manche Leute so tiefenentspannt, dass überhaupt kein mir unerträgliches Geräusch sie tangiert?

A: Vielleicht sind die Tiefenentspannten ja auch schwerhörig oder etwas dickfellig und deswegen unbeeindruckt? Eine gewisse Gelassenheit kommt doch gern auch mal mit ein bisschen Phlegma daher… Oder bin ich nur neidisch? Ich fürchte ja. Das friedliche Schnarchen oder gutturale Grunzen von Hunden finde ich auch herrlich beruhigend, am besten natürlich, wenn es halbwegs gleichmäßig klingt. Ich entdecke auch immer mehr Klang-und-Geräusche-Apps, die Vogelgezwitscher, Urwaldgeräusche (ein bunter Tierlaut-Potpourri!), plätschernde Quellen, prasselnden Regen und dergleichen mehr mit dem passend unterlegten Naturschauspiel-Bild in Wiederholungsschleife abspielen. Da geht mir die Monotonie allerdings nach zehn Minuten auf den Wecker und lässt mich aussteigen. Beim Mantra-Singen ist es ähnlich, wenn der Sanskrit-Text ständig wiederholt wird – ist es aber nur die Melodie oder Schwingung, kann ich da den ganzen Tag hörend oder gar summend mit verbringen.
Misophonie-Leidende haben wohl eine ernst zu nehmende neurologische Störung, die häufig erstmals in der späten Kindheit oder Pubertät auftaucht. Die Betroffenen reagieren auf spezielle Geräusche, leiden aber auch je nach Ausprägung unter jeglicher Art von Lauten und teilweise unter Bewegungen, Berührungen oder Gerüchen. Wenn man also nicht nur angespannt oder aggressiv reagiert, sondern auch panisch, ist es wohl Zeit für eine Therapie, wenn der Arzt zuvor richtig medizinisch diagnostiziert hat.

Ich kann mich im Moment noch locker mit Atem- und Konzentrationsübungen über Wasser halten und stelle fest, dass die Geräusche, die irgendwie immer schon da waren – vor allem die aus der Kindheit! – mich eher beruhigen. Und da stehen Tierlaute an erster Stelle, aber auch Kirchenglocken, quietschende Schaukeln, Säge- & Schleifgeräusche von werkelnden Vätern und Nachbarn, der Rasensprenkler, der in heißen Sommermonaten abends seine Runden drehte und immer wieder ein Tierlaut: Pussi Steilings Hundegebell, das der Wind vom gleichnamigen Bauernhof Steiling direkt über die große Kuhwiese zu uns in den Garten trug.

M: Oh ja, die Geräusche der Kindheit… Ich hab viele davon auch noch sehr präsent im Ohr: Das erste, noch schläfrige Zwitschern der Vögel, wenn ich in der Dämmerung aufstand, um aufs Klo zu gehen (die schwache Blase hatte ich schon immer!); die leisen Schmatzlaute, wenn unser Kater Rips, der in unserem Kinderschlafzimmer ganz nah beim Ofen schlief, sich für die Nacht akribisch das Fell putzte; die Stimmen von meiner Mutter und unserer Haushälterin, die sich in der Küche unterhielten, während sie kochten und Kuchen backten, manchmal sangen sie auch; das durch eine Zimmerdecke gedämpfte Klavierspiel meines Vaters, am liebsten war ihm Brahms; die blechern scheppernde Schulglocke; die unten an der Straße vorbeiratternden Bulldogs, denen wir ehrfurchtsvoll nachschauten, weil sie oft von gleichaltrigen Kindern gefahren wurden (doch, in den 60er Jahren war sowas üblich).
Besonders geliebt habe ich es, nachts im warmen Bett zu liegen und entfernt die Unterhaltungen und das Gelächter der Gäste meiner Eltern zu hören. Ich fühlte mich dann unendlich geborgen in dem Gefühl, ungestört, aber trotzdem geborgen und beschützt zu sein. Dieses wunderbare Gefühl habe ich auch heute noch, wenn ich mit einem Buch oder vor dem Fernseher auf dem Sofa liege, während meine Kinder sich ein Zimmer weiter unterhalten. Dann dämmere ich ganz tiefentspannt langsam weg. Und da sie keine Gäste sind, muss ich nicht höflich sein und darf einschlafen.

A: Bei mir sind die Sonntage untrennbar mit klassischer Musik verbunden, die in meinem Elternhaus den ganzen Tag über zu hören war. Und das wirklich überall: Im Haus, im Garten, sogar in der Garage. Meist stellte mein Vater einen Klassik-Radio-Sender ein, seltener ließ er Symphonien, Sonaten und Opern von einer CD abspielen. Lief der Radiosender, gab es zwischen der feierlichen und getragenen Sonntagsklassik kleine Anekdoten aus den Leben, der meist schon lange verstorbenen Komponisten, die von sonoren Stimmen mit zarter Hintergrundmusik vorgetragen wurden.
Und frühmorgens erklang die Titelmusik vom „Ohrenbär, Radiogeschichten für kleine Leute“ aus den großen Boxen, in dem das Peter-Motiv aus „Peter und der Wolf op.67“ von Serge Prokofieff im Vor- und Abspann zu hören ist. Mein Vater liebt diese Geschichten bis heute! Die Sonntage meiner Kindheit hatten immer dieses Besondere, sie waren erhabener als das Alltägliche der Montage bis Samstage. Die Stimmen meiner Eltern und Brüder waren sonntäglich gedämpft – wie ein gefühlvoll gespieltes „piano“ am Klavier unter Einsatz des linken Pedals – und es wurde viel seltener gestritten!
Das Klassik-Ritual dieser Sonntage habe ich übernommen und als unsere Buben in der Pubertät waren, haben sie sich oft über die klassische Musik beschwert, die ich allein mit dem Argument rechtfertigte, dass es sie in meiner Kindheit auch gab. Für die jungen Wilden waren die Streich-, Blas- und Tasteninstrumente aber wohl reine Folter, weil sie so gar nicht dem Rebellischen und Lauten entsprach, auf das sie in der Zeit programmiert waren. Vivaldi, Mozart, Bach und Verdi wurden und werden ja auch gern mal an Bahnhöfen oder in der U-Bahn vor einem Fußballspiel strategisch eingesetzt, um Junkies, Obdachlose und Hooligans milde zu stimmen oder gar zu vertreiben. Dass dieses Einlullen und Besänftigen bei mir großartig funktioniert, merke ich immer, wenn ich mit der U-Bahn an den Haltestellen „Giselastraße“ und „Universität“ bin, an denen klassische Musik anscheinend eine fest installierte Größe ist. Das bringt mich stante pede in den Sonntagsmodus und ist ein untrüglicher Beleg für mich, dass Geräusche und Klänge ganz eng mit Gefühlen und Erinnerungen verknüpft sind
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M: Schon wieder eine Gemeinsamkeit unserer beiden Elternhäuser – Sonntag war auch bei uns Klassik-Zeit, allerdings nicht den ganzen Tag; die Nachmittage waren langen Spaziergängen und Gesellschaftsspielen vorbehalten. Bei uns lief fast ausschließlich Bach, die Kantaten rauf und runter, passend zu jedem Kirchensonntag. Meine Eltern besaßen eine Gesamtausgabe auf Vinyl, die mir allerdings bis heute nicht besonders gefällt, ich hätte lieber andere Interpreten gehabt, wenn schon. Aber ich bin eh kein großer Fan von Kantaten, ich mag klassische Musik bis auf wenige Ausnahmen lieber instrumental. Also auch nicht so gerne Opern, Musicals etc.
Zurück zu Bach: Den liebe ich immer noch sehr. Diese Liebe wurde mir natürlich von meinen Eltern quasi „anerzogen“, aber ich glaube, ich würde sie auch empfinden, wenn ich ohne jeden Bezug zu Klassik oder überhaupt Musik aufgewachsen wäre. Der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf hat eine Art Tagebuch über seine Krebserkrankung geschrieben, „Arbeit und Struktur“, und darin schreibt er, dass er gegen Ende gar keine Musik mehr erträgt – bis auf Bach, der geht noch. Ich konnte mir das sofort vorstellen.
Er schreibt in diesem Buch übrigens auch über die Qual, die ihm sein Nachbar zufügt, der, vor allem spätnachts, unglaublich laut Musik laufen lässt – sowas wie Metal, wenn ich mich recht erinnere – und alle diesbezüglichen Bitten an sich abtropfen lässt. Herrndorf bietet ihm sogar an, ihm einen drahtlosen Kopfhörer bester Qualität zu kaufen, scheitert aber auch hier an der Ignoranz des Mannes.
Lärm, aber auch leise Geräusche, können Folter sein, wird ja auch als Methode eingesetzt. Ich glaube, ein monotones, sich in regelmäßigen Abständen wiederholendes Geräusch wie zum Beispiel ein tropfender Wasserhahn könnte mich bei entsprechender Dauer zum Durchdrehen bringen. Wohingegen Bach mich sofort beruhigen würde.

A: Der Mann, der mich mit seinem universalen Wissen und seiner tiefgründigen und pragmatischen Art zum Yoga gebracht hat, hat mir mal gesagt, dass klassische – nach der Harmonielehre komponierte Musik – die oberen Ebenen im Körper (im Yogatalk die höheren Chakren, die sich in ständiger Kreisbewegung befinden) anspricht, also Herz-, Kehl-, Stirn,- und Scheitelzentren. Die unteren Chakren (Beckenboden bis Bauchnabel) sind den Grundbedürfnissen und Emotionen zugeordnet und sie schwingen in einer langsamen Frequenz. Die oberen also schneller, aber vor allem auch feiner, es geht vom Grobstofflichen zum Feinstofflichen hübsch die Leiter nach oben. Tiefe Bässe, harte Metal- oder laute Rockmusik spüre ich eher im Bauchbereich und darunter, während klassische Musik – aufgrund der höheren Frequenz – eher den Herzraum und alles darüber anspricht. Pop- & Rockmusik bringt uns mehr in die Aktivität, ins Machen und Umsetzen, während Klassik eher beruhigend und meditativ wirkt.
Ich bin ja ein großer Beatles-Fan und behaupte, dass deren Musik mehr meine oberen Chakren anspricht, während die Männer in meiner Familie eher auf die Stones stehen. Angeblich kann man nicht Fan von beiden sein, was aber nicht heißt, dass man gleich misophonisch auf eine der Bands reagieren muss. Ich mag nämlich beide! Interessant wäre aber, welche Schwingung der tropfende Wasserhahn oder der Kaffeeschlürfer hat, der einen in den Wahnsinn treibt? Da habe ich noch keine gute Erklärung zu gefunden, außer dass ich beiden den Hals umdrehen
könnte. Und jetzt fällt mir wie Schuppen von den Augen: Ich kann mit der Nase knacken!

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