M: Sonntagmittag, ich spaziere gemächlich durch Schwabing. An einer Ampel hält ein Auto, durch die halbgeöffneten Fenster dringt Musik auf die Straße, Lou Reed singt „Walk on the Wild Side“. Und schlagartig beamt mich der Song zurück in den Sommer 1972, eine komplett verregnete Party an einem Strand in Schottland, wo ich zum Schüleraustausch war und ihn zum ersten Mal gehört und seither nie wieder aus den Ohren verloren habe. Ich bin zurück nach Hause gegangen und hab sofort das Lied, das ich ganz oben auf meiner Playlist auf dem Computer habe, noch mal gehört, nicht einmal, sondern gleich viermal. Und danach gleich noch eine ganze Menge anderer, die ich mit meiner frühen Jugend verbinde: Bob Dylan und die Stones, Bryan Ferry und die Ramones, Iggy Pop, Crosby, Stills, Nash & Young, The Band, J. J. Cale, die frühen Pink Floyd… die Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Und während ich jetzt schreibe, läuft Eric Burdon und „The House of the Rising Sun“.
Ich mag die Musik meiner späteren Lebensjahre, so ab den 90ern, schon auch, da sind tolle Sachen dabei, die ich immer noch gerne höre, aber nichts triggert mich emotional so sehr wie die Songs aus meinen frühen Jahren, als ich überhaupt erst anfing, ganz bewusst Musik zu hören. Und als der Kauf einer neuen LP, für den mühsam Taschen-, Geburtstags- und Weihnachtsgeld zusammengekratzt wurde, noch das Highlight des ganzen Monats war.
Erinnerst du dich noch an die erste Schallplatte, die du dir gekauft hast? Wann und wo das war? Und konntest du auch jeden, wirklich jeden Song davon mitsingen?
A: Mein sieben Jahre älterer Bruder war der einzige von uns drei Kindern, der einen eigenen Schallplattenspieler hatte. Und „Smoke on the Water“ von Deep Purple der Song, der mich über Jahre begleitet hat, weil er die Befindlichkeit meines Bruders immer wieder neu musikalisch abbildete: Rebellion, Protest, Unabhängigkeit, die große Freiheit…
Als ich dann selbst in die Rüpelphase kam und aus dem fröhlichen hellblonden Mädchen ein in tiefes Schwarz gehülltes Anti-Alles wurde, war es „Purple Rain“ von Prince, das mir in diesem Moment in einer Art Flashback direkt in die Ohren kriecht und ganz passabel diese etwas gruftige und melancholische Zeit widerspiegelt.
Ehrlicherweise muss ich jetzt aber zugeben, dass es nicht meine Songs waren, sondern die zweier Jungs, die damals großen Einfluss auf mich hatten: Mein ältester Bruder und mein bester Freund.
Ich war im Herzen und mit mir allein mehr so ein Suzanne-Vega-My-Name-Is-Luka-Typ.
M: Suzanne Vega mochte ich auch, ebenso wie Deep Purple. Überhaupt war ich nie so festgelegt auf eine Stilrichtung von Musik – wichtig war mir immer nur ein fetziger Rhythmus. Meine erste Schallplatte, auf dem Heimweg von dem legendären Schottland-Urlaub in London gekauft, war „Sweet Baby James“ von James Taylor, einem Singer-Songwriter, den heute vermutlich kaum noch einer kennt. Ich habe lange geschwankt zwischen seiner LP und „Déjà Vu“ von Crosby, Stills, Nash and Young; für zwei Platten reichte das Geld nicht, wir mussten schließlich noch Klamotten shoppen. Ich habe mich dann mit meiner mitreisenden Freundin darauf geeinigt, dass ich den Taylor nehme und sie CSNY und wir dann immer wieder tauschen, was wir auch in zweiwöchigem Turnus taten.
Wir waren jedenfalls stolz wie Oskar mit unseren zwei LPs und hielten sie auf dem Rückflug nach München auf dem Schoß, damit sie im Gepäckfach bloß nicht beschädigt würden. Die Reise endete dann allerdings nicht wie geplant auf dem Flughafen in Riem, sondern auf einem Militärflugplatz in Fürstenfeldbruck, wo wir und unsere Schallplatten stundenlang bei großer Hitze ausharren mussten – es war nämlich der Tag nach dem Terroranschlag auf die israelische Mannschaft bei den Olympischen Spielen. So verbinde ich mit James Taylor und CSNY ganz automatisch immer die Erinnerung an dieses Ereignis…
A: Musik, Geräusche und Gerüche halten Erinnerungen am lebendigsten, finde ich. Oder einfach alles, was mehrere Sinne anspricht. Meine Jahrgangstufenfahrt nach Berlin in der 11 mit innig verbundenem Punk-Jugendfreund ist untrennbar mit den Sex Pistols verbunden. Nicht mit einem einzelnen Song, weil die für mich alle gleich viel Krach machen, und für diese Aussage wird mich besagter Freund (der jahrelang die gleiche Lederhose samt Butterfly-Messer trug) im Nachhinein wohl steinigen….
Wir schwänzten oder verschliefen jede Schulveranstaltung auf dieser Berlinfahrt und hingen die Nächte im „Sexton“ in Schöneberg ab, einem Punk-Rock-Club, der dem älteren Bruder von meinem Provinz-Punker-Freund (ob er hiernach jemals wieder mit mir reden wird?) gehörte. Der große Bruder war jahrzehntelang der unangefochtene Vorzeige-Rebell unserer spießbürgerlichen westfälischen Heimatstadt, weil er mit 17 das Abi schmiss, ins trashige subkulturelle Berlin zog und ein Haus am Winterfeldtplatz besetzte, in dem er heute immer noch lebt. Inzwischen legal.
Ich habe die Sex Pistols nie gemocht, aber sie stehen für etwas, das ich ganz intensiv gefühlt und geliebt habe.
M: Die Sex Pistols waren auch nicht so mein Ding, aber andere Punk-Bands mochte ich gerne, The Clash, The Stranglers, Dead Kennedys, Ramones… Kennengelernt habe ich die meisten von ihnen im Ratinger Hof in Düsseldorf, wo ich Ende der 70-er, Anfang der 80-er oft war, weil mein damaliger Freund dort lebte. Nachdem wir uns getrennt hatten, gründete er selber eine Band, die als Vorläufer der Neuen Deutschen Welle galt; mit der Musik konnte ich allerdings wenig anfangen (und kann es heute erst recht nicht).
Den Ratinger Hof gibt es meiner Information nach nicht mehr; überhaupt sind fast alle Musik-Lokale und Clubs meiner früheren und späteren Jugend – und damit auch die entsprechende Musik – verschwunden: Das Sugar Shack, das Cosy’s, der Pop Club, das Domicile, das Größenwahn, die Registratur… nur das Crash gibt es noch, allerdings nicht mehr wie früher in der Unterführung an der Lindwurmstraße, sondern in der Ainmillerstraße; da war ich aber seit dem Umzug nie mehr. Meine Kinder allerdings schon, aber die waren nicht so begeistert und konnten sich gar nicht vorstellen, dass das mal wirklich ein richtig cooler Laden war, vor Urzeiten.
A: Die guten Clubs waren in meiner Jugend nur mit dem Auto erreichbar. Die Weberei in Gütersloh gibt es heute noch, ebenso wie diese Alte-Heimat-Clique aus vorwiegend Jungs, die sich traumwandlerisch mit hängenden Köpfen und schlaksigen Armbewegungen zu The Cure auf der Tanzfläche bewegte. Keiner von denen wohnt mehr in unserer Heimatstadt, wir beamen uns aber regelmäßig bei unseren alljährlichen Treffen in irgendeiner deutschen Jugendherberge zu „Love Cats“ oder „Friday I’m in love“ wieder zurück in diese alten Zeiten, Songs bei denen man zur gleichen Zeit glücklich und depressiv sein kann. Klappt ähnlich gut mit den Simple Minds und The Smith!
Einen Song, der auch irgendwo aus dieser Zeit stammt, kriege ich seit Tagen nicht mehr aus dem Kopf, obwohl er in meiner Jugend kaum eine Rolle gespielt hat: „Stayin‘ Alive“ von den Bee Gees. DEN hat mir einer der Johanniter bei meinem Ersthelferlehrgang ins Ohr gepflanzt, weil er meinte, dass der Rhythmus ganz wunderbar zur Druckbewegung der Hände bei der Herz-Lungen-Wiederbelebung passt und jetzt wird dieser Song auf ewig mit der männlichen, aber unbehaarten Gummipuppe unter mir verknüpft sein und nicht mehr mit John Travoltas sexy Hintern…
M: Erinnerst du dich noch an dein erstes Konzert? Meins war im Oktober 1973, Olympiahalle, Pink Floyd, die „Dark Side of the Moon“-Tour. Ich musste wochenlang meine Eltern bearbeiten, damit sie mich fahren ließen, sie haben es auch nur erlaubt, weil mein damaliger Freund ein Klassenkamerad meiner ältesten Schwester war, den sie für vertrauenswürdig hielten, weil er immerhin schon 22 war und studierte. Er war außerdem nicht nur im Besitz eines Führerscheins, sondern auch eines eigenen Autos, was einen sehr bequemen Shuttle-Service von Landshut nach München und zurück bedeutete. Und er schenkte mir das Ticket, das, ich weiß es noch genau, 15 Mark 30 kostete (ich habe die Eintrittskarte jahrzehntelang gehütet wie einen Schatz, sie hat mit mir diverse Umzüge mitgemacht, ist dann aber doch irgendwann verloren gegangen).
Wir waren natürlich in der Arena, nie im Leben wären wir auf die Idee gekommen, uns auf die Tribünen zu setzen, wir wollten ganz weit vorn sein. Und wir WAREN ganz weit vorn! Ich fand es unfassbar aufregend inmitten der wogenden Menge, es war eng, aber keinen Augenblick lang bedrohlich, alle Leute waren total nett zueinander, als seien wir eine riesengroße Gruppe von Freunden. Viele hatten Decken dabei, auf denen sie lagerten, es wurde gegessen und getrunken, geknutscht und gelacht, kann sein, wenn ich mich recht erinnere, durfte man damals in der Olympiahalle sogar noch rauchen. Und dazu diese psychedelische Light-Show zu der Musik, von der ich jeden Takt kannte… Ich hab das alles noch total plastisch im Gedächtnis. Und ich hab noch Tage später auf Wolke 7 geschwebt, so erfüllt war ich davon.
A: Mein erstes Konzert in der Dortmunder Westfalenhalle war grauenhaft, und vermutlich habe ich deswegen auch keine Erinnerung mehr an die Band, die gespielt hat. Alle um mich herum rissen die Arme hoch, waren gefühlt größer als ich, wenn sie auf null Raum auch noch hochsprangen und alles rausgrölten, was sie in dem Moment bewegte. Ich sah büschelweise Achselhaare und völlig verschwitzte, rotglühende Gesichter vor mir, die sich in der irren Lightshow fratzenartig verzerrten. Alle wurden von dieser merkwürdig irrationalen Welle getragen und lösten sich im großen Ganzen auf. Nur ich nicht. Ich hab heute noch die stickige, klebrige und stechend-schweißgetränkte Luft in der Nase, wenn ich mich zurückbeame und war nie wieder auf einem Konzert in einer riesigen geschlossenen Halle.
Am liebsten ging ich auf Scheunenbälle, die zum Aufwachsen in Ostwestfalen gehörten wie stundenlange Autofahrten übers Land mit aufgedrehter Musikanlage. Auf der Leder-Rückbank eines alten 220 S mit Heckflosse blickten wir in die unendlichen Weiten der Wiesen und Felder, und wenn einfach alles passte lief dazu „The Look of Love“ von ABC oder „Rain in May“ von Max Werner, die einzigen Songs, die ich von beiden kenne. Vielleicht, weil sie in diesen Momenten einfach perfekt waren.
M: Lustig, wie verschieden wir unsere ersten Konzerte erlebt haben! Bei mir die reine Freude, bei dir der reine Horror! Wahrscheinlich hast du deswegen auch die Band verdrängt, die damals gespielt hat…
An Autofahrten über Land mit der entsprechenden Mucke erinnere ich mich auch noch gut. Überhaupt wirkt Musik beim Fahren – zumindest auf mich – ganz anders, als wenn ich sie in Innenräumen höre. Leider hat es meist bei mir die Wirkung, dass sie mich antreibt, ein bisschen schneller zu fahren als erlaubt.
Einmal war ich mit Freunden nachts in Dänemark unterwegs, und im CD-Player lief das Klavierkonzert Nr. 23 von Mozart, gespielt von Arturo Benedetti Michelangeli; normalerweise nicht die Musik, die ich im Auto höre. Dieses Konzert war aber so wundervoll und passte so perfekt zum Moment, dass ich es mir zuhause gleich gekauft habe. Ich höre es immer noch sehr gern, aber die Stimmung von damals stellt sich dabei nicht mehr ein. Es muss eben einfach alles passen.
Momentan überlege ich, ob ich mir wieder einen Plattenspieler anschaffen soll, um meine ganzen alten Vinyl-Platten hören zu können. Leider habe ich einen großen Teil bei einem meiner diversen Umzüge verschenkt, aber der Rest würde immer noch reichen, um zumindest einen sehr wilden nostalgischen Abend zu beschallen!
A: Einen alten Plattenspieler finde ich hundertprozentig im Keller meines Elternhauses. Das Sammelsurium, das mein Vater da in den letzten Jahrzehnten angehäuft hat, taugt sicher für einen nostalgischen Flashback in die 70er, 80er UND 90er. Zudem findet sich da hoffentlich auch noch mein alter Kassettenrekorder und – viel wichtiger – die Top Hits der 80er, liebevoll zusammengestellt auf zahlreichen Kassetten mit persönlicher Widmung von meinem damaligen Freund mit Balladen von Police („Every breath you take“!) bis hin zu legendären Songs der Ska-Band Madness („Our house!“, „One step beyond“!) und dem unvergessenen „Tainted Love“ von Soft Cell… Klar kann man sich die heutzutage bei diversen Audio-Streaming-Diensten auch einfach runterladen, aber das Unsagbare, das all diese Songs, in dieser ganz besonderen Reihenfolge abgespielt, ausdrücken sollten, DAS findet sich nur auf diesen alten Tapes.
M: Ob deine legendären Mix-Tapes noch hörbar sind? Ich wollte vor ein paar Jahren, als ich Zugang zu einem Kassettenrekorder hatte, mal in meine Sammlung reinhören, musste aber feststellen: Da war nix Anständiges mehr drauf, nur noch Rauschen und Brummen und zwischendurch mal ein paar Töne! Offenbar altern Kassetten schlechter als gedacht und erhofft. Ich war sehr enttäuscht, zumal ich manche Titel bzw. Interpreten der damals so geliebten Songs einfach nicht mehr weiß. So geht’s dahin mit den Erinnerungen, sie sind nicht für ewig. Höchstens im Kopf.