M: Erinnerst du dich noch an die Einführung des „Langen Donnerstags“ 1989? Zum ersten Mal durften damals die Geschäfte bis 20.30 Uhr geöffnet haben, vorher war 18.30 Uhr täglich Zapfenstreich, am Samstag sogar schon um 14 Uhr. Ich weiß noch, dass wir alle wegen dieses Donnerstags ganz aufgeregt waren, die Läden wurden, zumindest am Anfang, regelrecht gestürmt. Unbeliebt war der Tag nur bei den Angestellten, die ihn „Schlado“ nannten, also Scheiß langer Donnerstag.
An diese Zeit muss ich oft denken, wenn ich mal wieder einen Fahrer von Godzilla oder einem der anderen Express-Lieferdienste in Sicherheit bringe. Die Jungs und Mädels stehen ja total unter Strom, weil sie die Bestellung innerhalb von 10 Minuten zum Kunden bringen müssen. Was wiederum bedeutet, dass sie auf Straßenverkehrsregeln wenig Rücksicht nehmen können; ich habe schon etliche Situationen erlebt, in denen ich um ein Haar von so einem schwitzenden und keuchenden Lieferanten überfahren worden wäre.
Sich Lebensmittel fix liefern zu lassen, war 1989 absolut undenkbar, wir waren schon froh, wenn uns der kleine Händler am Eck noch um 18.32 Uhr einen Liter Milch verkauft hat, und die Einkäufe fürs Wochenende gerieten regelmäßig zur Stresstour. Aber was ich mich schon frage: Wer um Gotteswillen braucht sein Zeug innerhalb von ZEHN MINUTEN?!?
A: An diesen „Schlado“ habe ich kaum Erinnerung. 1989 war mein erstes Studentenjahr in Köln und das Thema „Einkaufen“ irgendwie nicht populär, was natürlich auch daran lag, dass wir wenig Kohle hatten. Das Einzige, für das wir aus unserer Haushaltskasse richtig viel Geld ausgaben, war gutes Brot, meist aus einem der wenigen Bioläden, für die wir sogar längere Wege in Kauf nahmen. Ansonsten gab es viel Reis mit Scheiß und ab und zu mal einen Eintopf.
Das Highlight aber war der Einkauf bei „Da Giovanni“, einem sardischen Feinkostladen, der köstliche Oliven, Artischocken, frisches Gemüse, Romanasalat und vieles mehr hatte, das wir uns allerhöchstens ein Mal im Monat leisteten. Und unser Giovanni, der eigentlich Mario hieß, hat sich natürlich nicht an die spaßbefreiten deutschen Öffnungszeiten gehalten. Wenn es heiß war, machte er Siesta und abends brannte lange nach 18.30 ein Licht im Laden, der sich auf ein magisches Klopfzeichen auch wieder öffnete. Giovannis Lebensmittel waren uns heilig. Wir gaben uns redlich Mühe bei der Vinaigrette, dekorierten alles auf unseren potthässlichen Tellern und ließen uns Zeit. Das war ein großes Zelebrieren und dauerte meist Stunden, weil wir natürlich niemals davon satt wurden und nebenher ganz viel trinken mussten… Von diesen zehn Minuten der heutzutage hippen Lieferdienste waren wir also meilenweit entfernt.
M: Unser Giovanni bzw. Mario hieß Yannis und führte in den 90-er Jahren unten in unserem Nachbarhaus einen kleinen Lebensmittelladen. Wenn ich abends noch was brauchte, liefen unsere Kinder bereitwillig los, denn Yannis war nicht nur sehr nett, sondern auch großzügig, meist kamen sie mit einem Kaugummi oder einem Lutscher zurück.
Yannis betrieb den Laden mit seiner Frau und seinen zwei erwachsenen Kindern; sie lebten in der kleinen Wohnung hinter dem Laden, Arbeit und Privatleben gingen nahtlos ineinander über. Sie arbeiteten normalerweise von 6 Uhr morgens bis mindestens 22 Uhr im Geschäft, durften aber nur von 8 bis 18 Uhr verkaufen. Wenn er einen kannte und einem vertraute, bekam man im Notfall auch mal etwas außerhalb dieser Zeiten, aber immer mit der freundlichen Ermahnung, diesen Verkauf nicht an die große Glocke zu hängen.
Feinkostläden, gar sardische wie euren „Da Giovanni“, gab es zur Zeit meiner ersten WG noch nicht – oder zumindest haben wir sie nicht gekannt; wir hätten für derartige Spezialitäten auch auf keinen Fall Geld gehabt. Wir haben es damals immer so gehalten, dass wir unter der Woche ganz sparsam beim Discounter einkauften und am Freitagabend dann unsere restliche Kröten zählten. Wenn noch genug übrig war, holten wir am Samstag in einem „richtigen“ Supermarkt Luxusartikel wie Leberpastete oder Fertigpuddings. Am Abend fand dann eine regelrechte Fressorgie statt, die uns für die vielen anderen Tage, an denen wir fast immer Pasta, oft nur mit Ketchup, aßen, entschädigte. Mangel haben wir trotzdem nicht gelitten, wir wurden immer satt, aber wir waren, aus heutiger Perspektive gesehen, schon sehr bescheiden, was Essen anging. Dass uns das nicht gestört hat, lag wahrscheinlich daran, dass es anderen in unserem Alter nicht besser ging. Und die Zeit der Goumets und Gourmands war definitiv noch nicht angebrochen.
A: Ich kaufe ehrlich gesagt nicht gern das ein, was wir so zum täglichen Leben brauchen, treibe mich aber auf Bauernmärkten und noch lieber auf italienischen Wochenmärkten rum. Auch italienischen Alimentari und den großen Hypermercati bin ich verfallen und vertrödle da gern meine Zeit. Nur weil ich deutsche Supermärkte nicht besonders attraktiv finde, käme ich aber nicht auf die Idee, meine Lebensmittel liefern zu lassen.
Als wir noch auf dem Lande lebten, stellte eine Zeit lang der Bio-Bauer aus dem Nachbardorf eine Frischekiste einmal pro Woche auf unsere Terrasse. Da war regionales Obst und Gemüse drin, das ich dann unter der Woche mit viel Experimentierfreude verarbeitet habe. Teilweise kamen da recht kreative Gerichte bei raus, weil ich mir auf dem Wochenmarkt zum Beispiel keine Pastinaken gekauft hätte, sondern eher zu den Gemüsesorten griff, die ich ohnehin schon kannte. Von mir aus hätte das auch ewig so weitergehen können, aber die Jungs waren zu der Zeit nicht so wild auf gesundes Gemüsezeugs, das ich dann meist auch noch ayurvedisch angehaucht zubereitete. Die Frischekiste war also ein Auslaufmodell, auch weil ich keine Lust hatte, die Rote Beete und den Rosenkohl immer alleine in mich reinzustopfen, damit das Zeugs endlich wegkam, bevor die nächste Kiste vor der Terrassentür stand.
M: So eine – bei uns „Ökokiste“ genannte – Frischekiste hatte ich auch mal eine Zeitlang und habe ähnliche Erfahrungen gemacht wie du: Wenn der Inhalt eher exotisch = ungewohnt war, waren die Kinder wenig begeistert, zumal eins davon Salat und Gemüse gegenüber eh kaum aufgeschlossen war (und leider immer noch ist). Wir konnten aber beim Lieferanten umsteigen und uns die Befüllung der Kiste selber auswählen, was immer sehr viel Spaß gemacht hat, denn es gab dort nicht nur Obst und Gemüse, sondern auch wunderbare Bio-Joghurts, Brot, Käse und allerlei anderes, das sehr gerne angenommen wurde.
Inzwischen habe ich die Kiste wieder abbestellt, weil es in unserem Viertel wirklich sehr viele gute Läden gibt, die auch Bio-Artikel verkaufen, und ich es deshalb merkwürdig fände, wenn ich einen Lieferanten quer durch die ganze Stadt fahren ließe, um mir das bringen zu lassen, was ich um die Ecke kaufen kann. Wobei ich zugeben muss: Wir fieberten dem Kisten-Liefertag schon entgegen, so sehr freuten wir uns auf den gesunden Inhalt.
Inzwischen kaufe ich auch gerne bei der Bäuerin ein, die jeden Freitag um Punkt neun an der nächsten Ecke steht und ein erstaunlich großes Sortiment feilbietet. Brot und Käse hat sie auch, und ganz wunderbare Eier.
A: Da wir in nächster Zeit offensichtlich nicht zu Neukunden der Lieferdienste werden, frage ich mich einmal mehr, wer auf diese Express-Lieferungen abfährt? Der Jüngste, der selbst mal in Melbourne in seinem Work-and-Travel-Jahr für einen Lieferdienst gearbeitet hat, hat da auch keine konkrete Antwort drauf. Für ihn als Fahrer war es weder ein guter, noch ein lukrativer Job, da er zur miesen Bezahlung auch noch in Vorkasse gehen musste, um sich ein Fahrrad zu leihen. Dann wurde er nach Kunden bezahlt und wenn diese weit voneinander entfernt waren, gab es zwar mehr Workout für die Beine, aber eben auch weniger Kohle. Und das Trinkgeld war wohl auch nicht so üppig.
Ein Freund von ihm hat die letzte Lieferung gerne mal zu Hause selbst verputzt, wenn es was Ordentliches und Großes war, um sich für die Plackerei zu belohnen. Das scheint nicht wirklich aufgefallen zu sein, was für mich eher ein Zeichen dafür ist, dass das Kleine im Großen wohl untergeht. Diese Lieferdienste passen aber ganz gut zum australischen Laid-Back-Life-Style, da der „typische“ Kunde vermutlich eher selten auf die Idee kommen würde, selbst mit dem Radl einzukaufen. Die Beobachtung meiner Freundin, die seit 16 Jahren dort lebt, geht sogar soweit, dass auch jede noch so kurze Fahrt mit dem Auto erledigt wird…
M: Das habe ich bei meinen zwei Australien-Aufenthalten auch beobachtet, dass ohne das Auto fast nichts geht. Wobei es im Zentrum der Städte wie Sydney und Melbourne ein bisschen anders ist – da werden tatsächlich die Einkäufe, oder zumindest ein Teil davon, zu Fuß erledigt, auch Fahrradfahrer mit vollgepackten Körben hab ich da schon gesehen. Wenn man außerhalb der City wohnt, ist das natürlich sehr viel schwieriger, auch bei uns.
Meine Mutter wohnte ja in ihren letzten Jahren zeitweise auf dem Land, da war das mit dem Shoppen echt schwierig. Autofahren mochte sie nicht mehr (war auch besser so!), einen Laden gab es in dem Dorf nicht, nur einmal in der Woche kam ein Bäckerwagen vorbei. Öffentliche Verkehrsmittel? Fehlanzeige! Sie hatte gottseidank sehr nette Nachbarn, die ihr ein- bis zweimal pro Woche das Gewünschte aus dem Supermarkt in der Stadt mitgebracht haben (wofür sie sich immer mit Kuchen revanchierte), einfach war es trotzdem nicht. Hätte sie auf einen Lieferdienst zurückgegriffen, wenn der vor 20 Jahren schon existiert hätte? Ich glaube nicht. Aber selbst wenn – sie hätte bestimmt gerne länger auf ihre Sachen gewartet als 10 Minuten.