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Vom Charme des Provisoriums

A: Gestern hatte ich einen seltenen Gast beim Baden: Ein Schneidbrett aus der Küche. Unsere Wanne ist nämlich viel zu lang für mich, wenn ich mich mit den Zehenspitzen am hinteren Ende nicht festhalte, sauf ich ab. Alles in diesem Badezimmer ist genauestens abgemessen, nur die Badewanne ist ein Monstrum, jammerte ich. Der Mann war es leid und brachte mir ein großes Schneidbrett, „das auf diese Art und Weise auch mal richtig sauber wird“, fügte er pragmatisch hinzu. Weil sich da ja – im Laufe der Zeit – Verfärbungen sammeln vom Schneiden der vielen Kurkumas, der Petersilie etc. Er klemmte das Brett also ans hintere Ende und meinte, ich soll meine Füße da drandrücken. So ein Schmarrn, hab ich gedacht – aber es funktioniert! Ganz wunderbar sogar. Ich kann relaxt im Wasser schweben, meiner Cozy-Jazz-Mucke lauschen und dabei entspannt wegdämmern, ohne Wasser zu schlucken.
Nach dieser Relax-Phase hab ich dann Dinge auf dem Brett balanciert – einen Massageschwamm, einen Rasierer. Bei der Kerze ging das Brett unter. Das hat einen Mordsspaß gemacht – wie früher, wenn ich nach einem langen schmutzigen Tag draußen mit meinem Bruder in die Wanne musste und Enten und leere Shampooflaschen döppte.
Und als der Mann so in der Tür stand, hab ich gedacht: Vor Jahren gab es Schampus, heute Schneidbretter – lustig macht irgendwie beides, zumal man das Brett (umgedreht, da makellos weiß!) ja auch wunderbar auf den Wannenrand stellen kann, um die Gläser dort abzustellen. Und was ist bei dir so als Provisorium eingerichtet und taugt dir vielleicht noch immer?

M: Nichts ist so haltbar wie das Provisorium, heißt es ja, und das stimmt, zumindest bei mir. Seit nunmehr fast 30 Jahren will ich mir den verloren gegangenen Fuß meiner Flurkommode nachschreinern lassen, damit das Möbel nicht mehr auf einem aus dem Sperrmüll gefischten Holzklotz stehen muss – und immer wieder vergesse ich es. Das liegt natürlich auch daran, dass der Ersatzfuß kaum sichtbar ist, ich also an seine Existenz nicht erinnert werde.
Von solchen Provisorien gibt es in meiner Wohnung reichlich. Das Fenster im Wohnzimmer klemme ich zum Beispiel mit einer 1-Kilo-Hantel fest, wenn es geöffnet bleiben soll; das Kabel von der Bettlampe hat einen Wackler, aber wenn ich mit Fingerspitzengefühl ein bisschen am Kabel ruckle, geht das Licht dann doch an; die auf unebenem Parkett schief stehenden Bücherregale habe ich mit Bierfilzl und kleinen Holzstücken halbwegs gerade gekriegt, bei dem Schränkchen daneben geht das mithilfe einiger Cent-Münzen prima. Eigentlich total in Ordnung, so ein bisschen Unvollkommenheit und Improvisation. Das einzige Problem dabei: Der Hund hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Holzstücke, zum Teil mit sehr viel Kraft, unter den Möbeln hervorzuzerren…

A: In unserer Wohnung hat zwei Jahre lang ein Schreibtisch gestanden, den der Mann auf dem Speicher aus einer weißen Spanplatte zurechtgesägt hat. Nur für den Übergang, hieß es. Tischbeine hatten wir noch und fertig war das Provisorium, das in dieser Zeit seinen Zweck hervorragend erfüllt hat. Für die Auswahl des endgültigen Tisches haben wir so lange gebraucht, wie wir normalerweise für Lampen brauchen. Letztere fehlen im Schlafzimmer noch immer und die hässlichen Glühbirnen mit Fassung und Kabelgedöns sind mittlerweile zum Normalzustand geworden. Lampen und Bilder kommen immer ganz zum Schluss bei uns, aber die Renovierung ist ja nun auch schon drei Jahre her…Vielleicht weht ein klein bisschen der Geist meines Vaters auch in unseren Räumen. Der ist nämlich König der Baustellen und Provisorien, an denen sein Herz viel mehr hängt als an neuen Sachen, die eben einfach schon fertig und damit gänzlichst uninteressant für ihn sind.

M: Dein Vater scheint ein Vertreter der Philosophie-Richtung „Der Weg ist das Ziel“ zu sein: Wenn was fertig ist, interessiert es ihn nicht mehr so richtig, stimmt’s?
Ich kann das ganz gut nachvollziehen, weil ich mich noch an die Bauarbeiten in dem baufälligen großen Haus erinnere, das wir 1988 in der Toskana gekauft haben. Jedes Jahr war ein Abenteuer – was würde diesmal fertig werden? Anfangs hatten wir zum Beispiel noch kein fließendes Wasser, sondern mussten es in Kanistern von unserer etwa 200 Meter entfernten eigenen Quelle holen, zu Fuß natürlich, denn der Weg dorthin war mit dem Auto nicht befahrbar. Im zweiten Jahr haben wir einen Brunnen bauen lassen, dessen Standort der ortsansässige Bauunternehmer mit einer Wünschelrute bestimmte und der leider sehr viel teurer wurde als geplant; außerdem bekamen wir, als das Wasser erstmal da war, eine richtige Toilette; vorher nutzen wir ein Plumpsklo ein Stück den Hügel runter, was mich in der Nacht jedes Mal viel Überwindung kostete. Wir haben während unserer Aufenthalte dort eigentlich unaufhörlich gewerkelt, Fenster abgeschliffen, Böden gelegt, einen Kamin gebaut, Pflanzen gesetzt… Zur Ruhe kamen wir eher selten. Aber schön war es.

A: Das Unfertige hat seinen ganz eigenen Charme, bleibt in Erinnerung, setzt sich fest. Wenn ich in so perfekte Schöner-Wohnen-Häuser- & Wohnungen komme, suche ich verzweifelt nach einer Macke. Ganz schlimm ist es, wenn noch nicht mal ein Bild schief hängt, geschweige denn die Garderobe nicht aufgeräumt ist oder kein verlodderter Köter im zerknüllten Hundesofa schnarcht.
Ein gewebtes Bild mit einem schreiend roten Shalom-Schriftzug, vor den sich schrecklich beißenden Hintergrundfarben Grasgrün, Rosa und Mint, wird mir ewig im Gedächtnis bleiben. Es hing in einem Appartement-Gebäude in der Upper West Side im 10. Stock und sollte einen ockergelb übermalten Fleck an der Wand abdecken, was nicht wirklich gelang, weil es etwas Schlagseite hatte.
In jedem Etagen-Flur des Gebäudes stand oder hing etwas, das einen Hinweis auf die Bewohner der Appartements dahinter zuließ: Ein (noch) nicht aufgehängter goldumrahmter Spiegel, ein Fahrrad, ein Beistelltisch im Jugendstil… Ich bin damals in alle 12 Stockwerke mit dem knarzenden und ächzenden Zwei-Personen-Lift gefahren. Wenn die Lift-Tür sich in jedem Stock ruckelnd öffnete, stand ich in einem maximal 2 qm kleinen Mini-Flur, von dem aus jeweils eine Appartementtür links und rechts abging. Keine Fenster. Ich hatte das Gefühl, hier schon im Wohnzimmer der Bewohner zu stehen und war fasziniert von der Intimität, die mir da entgegenschlug. Und als ich unten in der Lobby wieder ankam, schlich ich am Doorman vorbei, weil ich das Gefühl hatte, etwas Unrechtes getan zu haben.  

M: Als ich vor Jahren auf Wohnungssuche war, habe ich die Fake-Inserate mit den überraschend günstigen Mieten immer auf den ersten Blick daran erkannt, dass die Wohnungen aussahen wie aus einem Möbel-Katalog (und es vermutlich auch waren!): Alles perfekt aufeinander abgestimmt, oft die gleichen Bilder an den Wänden, in den Bädern zwei, drei teure Parfums, schicke Handtücher und sonst nichts, in den Küchen dekorativ drapiertes Geschirr und Obstschalen mit sichtlich künstlichen Früchten. Alles total steril und charakterlos. Nie würde ich darin wohnen wollen, selbst wenn die Annoncen kein Beschiss wären.
Zum Thema schief hängende Bilder könntest Du in meiner Wohnung Feldstudien betreiben; vor allem im Flur, wo ich jede Menge Fotos der mir liebsten Menschen versammelt habe, hängen sie wie Kraut und Rüben. Ich rücke sie zwar ab und zu wieder ein bisschen gerade, aber sie begeben sich widerspenstig sofort wieder in ihre Ursprungsposition, so als wollten sie sagen: Lass uns doch in Ruhe – wir WOLLEN so bleiben!

A: Die Bilder an deiner Wand ziehen mich bei jedem Besuch in ihren Bann. Du im Sommerkleid, deine Kinder neben dir. Im schlichten Schwarz-Weiß verschwindet der Hintergrund. Und das Bild deines Vaters, der so offen in die Kamera schaut, aber nichts von sich verrät. So eine Bilderwand gibt es auch im Haus meiner Eltern mit vielen Fotos von der ganzen Familie, Freunden, Hunden. Bei zweien ist der Glasrahmen gesprungen und ich frage mich jedes Mal, wer das Bild mal runtergerissen hat. Einer der Hunde? Emma, Carlos, Rowohlt oder gar Ruth? Oder eines der tobenden Kinder an Weihnachten?
Vielleicht kann man die Risse im Glas ja „Kintsugi-like“ mit diesem japanischen Wunder-Lack „Urushi“ wieder kitten? Diese Reparaturtechnik scheint ein Megatrend zu sein, an der Volkshochschule werben die Kurse mit Slogans à la „Schönheit liegt im Fehler, nicht in der Perfektion“ – auch wenn in diesen Kursen vielmehr Teeschalen und Keramik aller Art wieder neu zusammengesetzt wird. Der Trend geht aber ganz klar zur Wiederwendbarkeit und dazu, Altes, Fehlerhaftes und Provisorisches mehr zu schätzen. Und durch diese Gold- & Silberpigmente im Lack und das Aufpolieren entsteht wieder was Neues, Einmaliges, das dem Original in nichts nachsteht. Ganz im Gegenteil.

M: Diese Kintsugi-Technik hab ich erst vor kurzem entdeckt und finde sie sehr faszinierend. Einen Kurs würde ich nicht machen wollen, aber angeblich kann man diese „Reparatur“ auch ohne größeren Aufwand selber anwenden, im Internet gibt es Sets dafür zu kaufen; ob es damit gut funktioniert, weiß ich natürlich nicht. Sollte bei meinem Geschirr mal ein Teller kaputtgehen, würde ich es auf jeden Fall mal probieren, vom Material würde es perfekt passen, die Stücke mit so einem Goldlack wieder zusammenzusetzen. Es juckt mich richtig in den Fingern, aber absichtlich kaputtmachen will ich natürlich auch nichts, das würde dem Sinn ja widersprechen. Aber etwas Zerstörtem, Zerbrochenem durch so eine Technik eine neue Erscheinung zu verleihen, das gefällt mir schon sehr.

A: Jetzt freu ich mich noch mehr auf meine Sonntagsbadewanne mit Küchenbrett! Wenn nämlich die Kintsugi-Technik die Unvollkommenheit preist, dann wird mein wöchentliches Badeerlebnis zum rauschenden Fest: Denn weder die Badewanne noch ich sind in unserer Größe eine Fehlplanung. Und das schnöde Küchenbrett bekommt auch außerhalb der üblichen Dienste eine extra Portion Wertschätzung. UND der Mann, der ja die Idee hatte. Ein Hoch auf das Provisorium!


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