A: Gestern hab ich mein blaues Dirndl aus der Schneiderei bei uns ums Eck abgeholt. Es brauchte mehr Platz obenrum – satte 3 cm! Bei diesen Ausmaßen hab ich mich natürlich ernsthaft gefragt, wie ich es vor drei Jahren! geschafft habe, ausreichend Sauerstoff in dem Teil zu bekommen. Der freundlich grinsende türkische Schneidermeister mit rabenschwarz gefärbtem Haar meinte, ich hätte das wohl zu eng gekauft. Mein Gejammer, falsch beraten worden zu sein, dementierte er kopfschüttelnd. Schließlich sei ich es gewesen, die das Teil zur Probe getragen hätte. Nun gut – ich fürchte, er hat ein bisschen recht, denn mopsiger geworden bin ich nicht – eher im Gegenteil. Und ich bin jetzt startklar, nachdem ich auf dem Frühlingsfest (ohne Dirndl, weil zu eng) einen kleinen Vorgeschmack bekommen habe nach nun 3 Jahren Wiesn-Abstinenz. Denn unser letzter Wiesn-Besuch war ausgesprochen lustig und entspannt mit allerlei – erstmal unbekannten – Tischnachbarn, die ich nie wieder gesehen habe. Ich erinnere mich aber so lebhaft an ihre Gesichter und Geschichten, dass sie mir präsenter sind als viele Menschen, denen ich jeden Tag begegne…
M: Ich persönlich beantworte deine Frage mit einem klaren Nein. Allein bei dem Gedanken, mich auf die Wiesn oder gar in ein Bierzelt zu begeben, wird mir ganz elend. Das ist nicht erst seit der Pandemie so. Und wozu bräuchte ich sonst ein Dirndl? Abgesehen davon, dass ich knallenge Kleidungsstücke nicht mag: Ich fühle mich in einem Dirndl immer total verkleidet, weil ich mit dieser Form von Traditions- und Brauchtumspflege so gar nichts am Hut habe.
Als ich ein Teenager war, hätten wir uns eher teeren und federn lassen als Tracht zu tragen; das war unserer Meinung nach etwas für Preißn oder reaktionäre Mitbürger, auf die wir arrogant und verächtlich – so wie man mit 16, 17 halt ist – herabblickten. Auf die Wiesn gingen wir natürlich, links und cool und Traditions-kritisch, wie wir waren, sowieso nicht.
Als meine Kinder im gleichen Alter waren, waren Wiesn-Besuche, und damit auch Dirndl, bei der Jugend längst wieder in Mode gekommen, an Schulen gab es zur Oktoberfest-Zeit sogar einen Trachtentag. Und sie verbrachten viele Nachmittage und Abende in diversen Zelten, hauptsächlich natürlich zum Anbandeln, wobei größere Mengen Bier ja durchaus hilfreich sein können, ich spreche aus Erfahrung.
Ich bin ein paar Jahre lang schon jedes Jahr zwei-, dreimal auf die Wiesn gegangen, auch in Bierzelte. Im privaten Kreis war das ganz lustig, leider musste ich auch ab und zu einer offiziellen Einladung folgen, das war dann eher anstrengend. Mittlerweile beschränke ich mich allerhöchstens auf einen Bummel tagsüber, in zivil natürlich, um eine Fischsemmel zu essen und mich über die Besoffenen auf dem Tobogan zu freuen.
A: Eine Fischsemmel auf der Wiesn? Hab ich da noch nie gegessen! Vielleicht weil der Mann keinen Fisch isst und ich kulinarisch seit Jahrzehnten nur an Leberkässemmeln, halbe Hendl und die Ochsen denke, die da am Spieß gedreht werden. Und natürlich an Knödl mit Schwammerl für mich. Spannend, wie sehr wir in unserer eigenen Blase leben…
Wenn wir früher mit den Schwiegereltern tagsüber zur Wiesn gingen, trug niemand von uns Dirndl oder Lederhosen. Janker oder Hut waren aber schon dabei. Die gebürtigen Münchner erkannte man – ob des inflationären Trachten-Hypes der Millionen anderen Wiesn-Besucher – eher daran, dass sie in normalen Klamotten kamen. Mittlerweile hat sich das wohl wieder gewandelt – heute erkennt man an den Unmengen von Glitzer und Brokat bei Dirndln und Fake-Lederhosen aus dem Discounter aber immer noch recht schnell, wer diese Klamotte nur zum Oktoberfest trägt.
Ich finde, dass jede Frau in einem schlichten! Dirndl gut ausschaut. Vielleicht liegt es am Schnitt, an der Betonung der Taille und den hoffentlich eher dezent betonten Brüsten: Beides finde ich an Frauen bezaubernd, sinnlich, verführerisch, ästhetisch und denke gleichzeitig an eine Art Fürsorglichkeit, Wärme und Geborgenheit. Zu Letztgenanntem passt die Schürze der Dirndl, die mich an meine Oma Soest erinnert, wenn diese mit dem heißen und herrlich duftenden Bienenstich auf die Veranda kam und sich nach dem Abstellen des heißen Bleches sorgfältig die Finger an ihrer bunten Schürze abwischte.
Die Revolte gegen ein engstirniges und längst überholtes Trachten-Brauchtum hat in meiner Sozialisation gar nicht stattgefunden, weil ich damit schlicht nicht aufgewachsen bin. Meine Rebellion galt – auf einem vergleichsweise kleinen Nebenschauplatz – den westfälischen Schützenfesten, die ich mit ihren Uniformierten und ihren abgekaterten Schießwettkämpfen militaristisch und albern fand.
M: Ich finde diese Trachtentümelei generell schrecklich. Und fand es ziemlich peinlich, wie beim jüngst stattgefundenen G7-Gipfel in Elmau der amerikanische Präsident empfangen wurde, mit Gebirgsschützen und Trachtlern aller Art. Auf diese Weise wird ein Bild der Bayern – Lederhosen, Jodeln etc. – nach Deutschland und in die Welt getragen, das ich nicht mag.
Der von mir verehrte Kurt Kister, ehemaliger SZ-Chefredakteur und inzwischen Verfasser einer wöchentlichen Kolumne mit dem Titel „Deutscher Alltag“, schrieb dazu: „Söder trug bei dem Flughafenempfang jene Art des Lodenfrey-Spitzensteuersatz-Trachtenoutfits, das bei Traditionsbewussten als Raiffeisenanzug belächelt, von Unkundigen aber für bayerische Tracht gehalten wird.“ Die Bezeichnung „Lodenfrey-Sakko“ hat sich mir eingeprägt, weil ich sie so treffend finde. Und er schrieb mir auch weiter im Text aus der Seele: „Jedenfalls wären wir in den Siebzigerjahren nie auf die Idee gekommen, freiwillig eine Lederhose anzuziehen, um damit zum Beispiel aufs Oktoberfest zu gehen. Die Jeans zu jeder Gelegenheit war das hart erkämpfte Symbol der Moderne.“ Genauso war’s, jedenfalls bei mir und meinen Freunden.
Was nun das Dirndl betrifft, so kann ich deine Begeisterung dafür auch nicht teilen. Von allem anderen abgesehen, ist dieses Kleidungsstück – jedenfalls für mich – in erster Linie schrecklich unbequem, zumal ja unter die Bluse unbedingt ein Dirndl-BH gehört, der den Busen, auch „die Auslag“ oder „Holz vor der Hütten“ genannt, in die richtige Position zwängen soll. Furchtbar! Kein Mann würde sich, so vermute ich, jemals so einen Tort antun.
A: Als gebürtige Westfälin stelle ich immer wieder fest: Tracht in Bayern polarisiert und transportiert eine innere Haltung, bei politisch ausgerichteten Menschen sogar eine oft grundsätzliche. Ich kenne eine Frau, die im maßgeschneiderten Dirndl geheiratet hat und danach nie wieder eines getragen hat. Mehr noch: Das Hochzeitsgewand wurde zügig verkauft und die Scheidung ließ auch nicht lang auf sich warten. Eine andere bezeichnet Dirndl & Lederhosen als teuren Fasching und schmeißt stattdessen nostalgische 20er-Jahre-Partys. Mit den weiten und geraden Schnitte aus dieser Zeit, die wohl auch eine Art Befreiung des weiblichen Körpers einläuteten, verbindet sie Unabhängigkeit. Mal abgesehen davon, dass sich in diesem Klamottenthema natürlich die jahrhundertelange Unterdrückung der Frau widerspiegelt, betrachte ich ein Dirndl oder eine Jeans zunächst aus meinem ganz persönlichen Blickwinkel: Fühle ich mich wohl darin oder nicht? Wie andere mich sehen, versuche ich (zugegeben mit Mühe!) auszublenden. Unter anderem, weil mein erster Eindruck mich auch immer wieder getäuscht hat. Bei einem Jeansträger habe ich mal irritiert festgestellt, dass die Jeans ihn nicht automatisch zu einem freien Geist gemacht hat, der – irgendwelchen Traditionen entsagend – modern ist. Seine konservativen Ansichten waren trotz löchriger Jeans sogar derart beengend, dass ich in seiner Gegenwart nicht tief durchatmen konnte.
Nur beim Rückblick in meine Kindheit fühle ich noch diese Unbeschwertheit (ohne politischen Zündstoff!), mit der mein Bruder als Kind jahrelang seine über alles geliebte Lederhose trug und mein Vater beim Werkeln an seiner Hütte am Möhnesee seine Sepplhose (wie seine Schwester sie nannte). Aber vielleicht ist das auch dem milden nostalgischen Blick geschuldet oder der Gewissheit, dass die beiden mit IHREN Lederhosen jedenfalls kein Bekenntnis zu irgendwas ablegen wollten. Oder vielleicht insgeheim doch?
M: Wir Mädchen mussten schon als Kinder an Festtagen Dirndl tragen, die von einer Schneiderin gefertigt wurden; ich weiß gar nicht, ob es die in den 60-er Jahren schon überall zu kaufen gab, ich glaube eher nicht. Meine Großmutter bekam immer ganz leuchtende Augen, wenn sie uns darin sah; ich hingegen – von meinen Schwestern weiß ich es nicht mehr, vermute es aber auch – hassten so ein Teil, vor allem deshalb, weil es keine Hose war und ich des Öfteren ermahnt wurde, „anständig“ zu sitzen, damit man mir nicht unter den Dirndl-Rock schauen konnte.
Vor ein paar Jahren habe ich mich für ein Drehbuch mal etwas schlau gemacht über die Geschichte des Dirndls. Entgegen der landläufigen Meinung ist das ja keine bäurische Tracht, sondern wurde in der Stadt erfunden; die Bäuerinnen und Mägde trugen ursprünglich keine Dirndl.
So richtig populär wurde das Kleidungsstück wie überhaupt Trachten generell nach dem Ersten Weltkrieg, die Nazis nutzten Trachten für ihre Propaganda der „Volkskultur“. Damals wurde auch der Schnitt des Dirndl deutlich verändert: Der ursprünglich bodenlange Rock wurde kürzer, die Taille enger, das vorher hochgeschlossene Oberteil bekam ein üppiges Dekolleté verpasst. Juden durften übrigens weder Dirndl noch Lederhose tragen, wie ich damals herausfand; von Eva Braun hingegen gibt es zahlreiche Dirndl-Fotos, auch Hitler zeigte sich ja gerne in der Lederhose.
Das alles spricht natürlich nicht per se gegen das unbeschwerte Tragen eines Dirndls auf einem Volksfest. Bei mir allerdings hat dieses Wissen das ungute Gefühl bei der heutigen Trachten-Inflation deutlich verstärkt.
A: Bei uns zu Hause gab es keinen Festtags-Dresscode, nicht mal zu Weihnachten. Vermutlich wäre ich aber so unglücklich wie du gewesen, wenn man mich in ein Dirndl gezwungen hätte. Tatsächlich war ich aber irgendwann der alten Klamotten meiner Brüder, die ich auftragen musste, überdrüssig, weil sie so prosaisch waren wie die evangelische Kirche, in die wir gingen. Ich besuchte also katholische Gottesdienste, liebte das Pathos, die heilige Inszenierung und die pompösen Gewölbe ihrer Kirchen. Mein Konfirmationsrock war dann aber leider doch wieder nur blau und bieder und ich bewunderte ein ums andere Jahr im Familienskiurlaub in Oberstaufen unsere Pensionswirtin Maria in ihren bunten, fröhlichen und sinnlichen Dirndln, mit denen sie auch in den Kuhstall ging.
Dass ausgerechnet diese Dirndl aber für dich (und für viele andere vermutlich auch) das genaue Gegenteil von „bunt & fröhlich“ waren und dass Adolf Hitler die Tracht für seine Zwecke missbraucht hat (was ihm posthum mal wieder jede Menge Aufmerksamkeit beschert), ahnte ich damals nicht im Geringsten.
M: Ich wusste das natürlich als Kind auch nicht, mein Widerwille gegen Dirndl war rein emotionaler Natur und rührte vermutlich auch daher, dass in meinem damaligen Umfeld die – gottseidank wenigen! – Frauen, die Dirndl trugen, mir nicht gerade sympathisch waren. Die korpulente Lehrerin unseres nachmittäglichen Orff-Kurses zum Beispiel, die recht laut und (auch verbal) grob „unterrichtete“ und es innerhalb weniger Tage schaffte, mir und anderen die Freude an der Musik zu verderben, war so ein Beispiel (ich habe ihren Kurs dann auch so oft wie möglich geschwänzt!). Ich habe also mit Dirndl rein instinktiv nichts Positives assoziiert, schon gar nicht Fröhlichkeit, sondern eher Zwang, strikte Regelwerke, Drill, lautes Schimpfen und Strafen. Dafür kann das Kleidungsstück natürlich eigentlich nichts. Aber bemerkenswert finde ich es heute noch, wie sehr sich in meiner Wahrnehmung das Tragen von Tracht mit einer bestimmten unguten Geisteshaltung verbunden hat.
A: Interessanterweise habe ich in beruflichen Vorbereitungen für Veranstaltungen zum Jubiläum „50 Jahre Olympia“ gelesen, dass die Spiele 1972 in München das genaue Gegenteil der Spiele 1936 in Berlin unter den Nationalsozialisten sein sollten im Hinblick auf Architektur (das luftige Olympiadach), Stimmung, Farben (die Nazifarben Schwarz-Rot-Weiß waren tabu) und eben die Outfits. Locker und erfrischend musste alles wirken und die Olympia-Hostessen trugen hellblaue Dirndl mit weißen Schürzen und Strümpfen. Der Mythos, der sich um diese Dirndl rankt, erzählt, dass die Trägerinnen ihre Röcke teilweise selbst gekürzt haben, weil in den 70ern ja auch der ultrakurze Minirock einer der ultrahippen Mode-Trends war. Hier stand die Tracht also auf einmal für eine neue Leichtigkeit und Freiheit. Und mir drängt sich die Frage auf: Was ist an einem Dirndl so anziehend oder abstoßend? Warum polarisiert es so? Und warum ist das Dirndl mit all den oft bunten & munter gemischten Farben ein Ausdruck für Lebensfreude und gleichzeitig eine Art Uniform, die die weiblichen Kurven einer Frau in ein Korsett zwängt?
M: Dass du es als Ausdruck von Lebensfreude empfindest, ist lustig. Für mich ist es in seiner Uniformität genau das Gegenteil. Und was das Polarisieren betrifft: Ich vermute mal, dass die Abneigung Tracht gegenüber mit der Herkunft zu tun hat. Hamburger, Saarländer oder Rheinländer sehen Dirndl und Lederhosen meiner Wahrnehmung nach nur als eine Art exotische Kleidung, als Kostüm wie im Fasching oder im Karneval, das sich ganz wertfrei betrachten und auch tragen lässt. Für viele Bayer:innen geht es da eher ans emotional Eingemachte: Entweder sie können sich mit (originaler!) Tracht identifizieren, dann stört sie die unfassbare Kommerzialisierung, oder sie stehen dem Heimat-Begriff à la CSU und der damit einhergehenden Trachtentümelei eh kritisch gegenüber. Eins eint jedoch die beiden Lager: Die Abneigung gegen die Tatsache, dass Dirndl und Lederhosen im Ausland oft für typisch deutsche Bekleidung gehalten werden.
Übrigens gibt es, wie ich gestern zufällig im Fernsehen sah, bereits seit mehreren Jahren auch auf Mallorca einen Laden, der bayrische Trachten an Urlauber verkauft. Besonders gut gehen, so schilderte es die – natürlich in ein Dirndl gezwängte – Inhaberin strahlend, Stretch-Badehosen für Männer in Neonfarben; die typische Trachtenstickerei ist in diesem Fall aufgedruckt.
A: Das sind dann die neumodischen Instant-Trachten: Im Vorbeigehen gekauft, brutal billig, extrem scheußlich – mit nur noch einer homöopathischen C1000-Potenz von dem drin, was es ursprünglich vielleicht mal war. Also noch nicht mal ein Hauch der Ursprungsidee, über die man so geteilter Meinung sein kann. Das Dirndl an sich ist meines Erachtens nämlich eines DER Kleidungsstücke, das unendlich viele Widersprüche in sich vereint. Und allein deshalb ist es schon eine Klamotte für mich. Weil auch in mir scheinbar unvereinbare Widersprüche toben – bin mal rebellisch, mal nachgiebig, mal wild, mal zahm, mal eng, mal weit, mal fröhlich, mal streng, mal bunt, mal trist. Und leider niemals perfekt und ehrlich gesagt auch nicht immer politisch korrekt, weil das auf Dauer für mich eben auch Stillstand und Angepasstheit bedeutet. Vielleicht bin ich ja auf einem guten Weg in die Mitte und finde eines Tages meine Balance zwischen all dem. Und für das Dirndl erfindet jemand den goldenen Schnitt. Vermutlich erst dann, wenn es nicht für irgendwas herhalten muss, sondern einfach ein praktisches (die Seitentaschen für die Hände liebe ich!) buntes Kleid mit Schürze sein darf.