A: 2023 ist rum. Weiße Weihnachten gab es wieder nicht, dafür haben wir am ersten Dezemberwochenende einen kleinen Schneerekord gebrochen. Seitdem Schnee gemessen wird – also seit 1933 – fiel in einem Dezember noch nie so viel Schnee in München. 44 Zentimeter – der bisherige Höchstwert lag laut einem Wetterexperten im Jahre 1938 bei 43 Zentimetern. Auf Straßen, Autos, Bäumen und Häusern hat sich an dem Wochenende eine weiße Decke gelegt. Es war herrlich still und friedlich, als ich an diesem frühen Samstagmorgen mit dem glücklichsten Hund der Welt vor die Tür ging, um knietief in diesem Winterweiß zu versinken.
An der ersten Straßenecke auf unserer Tiefschneeroute entdeckten wir einen freigeschaufelten roten Toyota mit laufendem Motor, der sich – beim Versuch, die Parklücke zu verlassen – festgefahren hatte. Die Frau am Steuer wollte unbedingt in die Berge zum Wandern und bat darum, dass ich beim Anschieben helfe, was ich erfolglos tat. Carlos war furchtbar gelangweilt und setzte sich schon mit großen schneehasenähnlichen Sprüngen zum kleinen Bach ab. Und da wagte ich es, der Frau recht unverblümt zu sagen, dass ich ihr Unterfangen für völlig sinnlos hielt. Interessanterweise lenkte sie gleich ein und wir versuchten nun, den Wagen zurück in die Parklücke zu schieben, was genauso wenig gelang.
Nichts geht mehr, hab ich in dem Moment gedacht. Alles steht einfach mal still. Das passt irgendwie zur Stimmung im Allgemeinen. Haushaltsperre. Kein Wirtschaftswachstum. Und mir ist auch zu Beginn dieses neuen Jahres noch nach Rückzug und Reflexion.
M: Eigentlich fand ich das Schneechaos, das über uns hereingebrochen ist, so wie du schön und spannend: Diese Stille! Dieses Licht! Diese leeren Straßen, auf denen ich zeitweise nur Hundebesitzer und ihre Zamperl sah!
Aber dann kam der Tag, an dem meine Tochter und ich eigentlich zu einer viertägigen Reise nach Wien aufbrechen wollten; wir hatten den Trip schon einmal wegen COVID verschieben müssen und uns sehr darauf gefreut. Wird schon klappen, haben wir noch am Montag gedacht; die App der Deutschen Bahn war ebenfalls noch zuversichtlich. Wir fuhren also optimistisch morgens um halb neun zum Bahnhof und begaben uns zu den Gleisen, von denen aus in kurzem Zeitabstand gleich drei Züge Richtung Salzburg und Wien fahren sollten und die längst überfüllt waren, ebenso wie die Bahnhofshalle, in der eine große Menge von Reisenden gestrandet war und sich in Schlangen vor den Info-Schaltern aufgestellt hatte. Wir warteten geduldig, plauderten nett mit anderen Passagieren – und erlebten dann im Abstand von halben Stunden, wie ein Zug nach dem anderen gecancelt wurde, so dass gegen 11 Uhr klar war: Da geht heute nichts mehr!
Was mich sehr erstaunt hat: Die vielen Leute, die zum Teil schon seit Tagen in Richtung Südosten wollten und nicht konnten, reagierten gar nicht sauer, sondern eher gelassen, schlimmstenfalls resigniert. Kein Geschrei, kein Geschimpfe, keine Drohungen, nichts mit Wutbürgern. Und auch wir sind nach einem kurzen Seufzer friedlich mit unseren Köfferchen wieder nach Hause getrabt. Und ich dachte mir: Irgendwie passt diese Erfahrung in all ihren Facetten zu diesem chaotischen Jahr.
A: Im Grunde ist es ja mittlerweile auch wurscht, ob man nicht voran kommt wegen der Schneemassen, die hier in München merkwürdigerweise nicht so rubbeldikatz bewältigt worden sind oder wegen eines erneuten Streiks der Lokführer, die sich im Jahr 2023 mächtig angestrengt haben, einen neuen Rekord aufzustellen. Vielleicht entwickelt sich gerade eine Art neue Gelassenheit, mit Dingen umzugehen, die sich nicht aktiv ändern lassen? Die Schweiz scheint jedenfalls bestens präpariert für Schnee, Glatteis und Minustemperaturen. Die Züge dort haben angeblich noch nicht mal Verspätung. Von Ausfällen ist erst gar nicht die Rede. Und sind die Schweizer Kinder vielleicht auch beim Dreisatz den Deutschen überlegen? Angeblich kann jeder zweite Schüler nicht rechnen hier bei uns. Dann sind wir vielleicht wirklich so abgehängt wie es in den Zeitungen steht? Mich beunruhigt das jetzt irgendwie nicht. Vielleicht weil sich für mich persönlich in 2023 einiges bewegt hat, obwohl ich einfach nur dem gefolgt bin, was sich richtig angefühlt hat.
M: Dass sich momentan generell Gelassenheit bei Menschen entwickelt, kann ich in meinem Umfeld leider nicht feststellen, ich spüre und sehe eher Pessimismus, oft sogar Panik. Die weitverbreiteten Zukunftsängste – Wir sind pleite! Wir verarmen! Wir verlieren unsere Identität! Der Untergang des Abendlands ist nahe! – halte ich persönlich für total übertrieben und steuere mit einem gewissen Optimismus dagegen an. Und was die neueste Pisa-Studie betrifft: Alle paar Jahre kriegen wir mitgeteilt, dass die deutschen Schüler so schlecht in Mathe und Deutsch sind wie noch nie. Es herrscht dann große Aufregung, jede Zeitung schreibt ellenlange Artikel zu dem Thema, in jeder zweiten Talkshow diskutieren mehr oder weniger sachkundige Experten, dann ist das Problem wieder für längere Zeit vergessen und es ändert sich: nichts! Wenn ich mit Teenagern über ihre diesbezüglichen Erfahrungen spreche, hab ich das Gefühl, in meine eigene Schulzeit zurückversetzt zu werden – ein Graus!
Ich hab mir übrigens die Fragen des Pisa-Tests mal angeschaut und finde: Sie sind nicht ohne! Vor allem in Mathe hätte ich auf keinen Fall alle Lösungen richtig gehabt, auch als 15-jährige nicht. Ich werde also den Teufel tun und mich über die Schüler von heute und deren angeblich mangelhaftes Wissen erheben.
A: Ich habe aktuell auch das Gefühl, dass sich einige jetzt in diesem Krisen-Jammertal eingerichtet haben. Das Problem ist nur, dass es irgendwann so vertraut ist, dass manche da vielleicht gar nicht wieder rauskommen. „Krisenmodus“ ist ja auch das Wort des Jahres 2023 und ich verstehe es so, dass der Ausnahmezustand zum Dauerzustand wird und dann sind wir wohl in der Dauerkrise.
Bei meinem alltäglichen Blick auf das Wetter habe ich gerade gesehen, dass – nach einer vorläufigen Bilanz – 2023 das nasseste Jahr seit 2007 war. Es gibt also schon wieder einen Grund zu jammern, es sei denn, man dreht den Spieß um und freut sich, dass es nicht das trockenste Jahr war. Obwohl selbst meiner Mutter – die Regen liebt, weil er gut für die Natur und damit für uns ist – die letzten Wochen westfälischer Dauerregen jetzt auch mal aufs Gemüt geschlagen sind. Zumal der Regen auch nicht vor dem Jahreswechsel Halt gemacht hat – die letzten Tage in 2023 waren genauso nass wie die ersten in 2024.
Und auf Social Media wurde das Jahr 2023 häufig als schwer und herausfordernd bezeichnet und es kursierten Sprüche wie: „Thank you very f…ing much 2023“. Nach diesem tiefen Tal, kann es also nur noch bergauf gehen! Die Zweckoptimistin in mir wird aktiv und ich ertappe mich dabei, eine hoffungsvolle Vorfreude auf 2024 zu entwickeln.
M: Eine Bekannte meinte neulich, seit Beginn 2020 sei doch jedes Jahr scheiße gewesen. Ich war überrascht, hab darüber nachgedacht und kann ihr nicht zustimmen. Klar kam erst Corona, dann andere große Krisen wie der Ukraine-Krieg und in dessen Folge rationale bis irrationale Ängste, aber in summa denke ich, solche Jahre hat es schon immer gegeben. Aber erstens waren wir recht verwöhnt, weil es uns Jahrzehnte lang sehr gut ging bzw. wir die diversen Krisen wie etwa die Klima-Katastrophe (noch) ignorieren konnten, und zweitens wussten wir früher einfach nicht, was so alles los war auf der Welt. Heute erfahren wir ja binnen Sekunden, wenn in China oder anderswo der sprichwörtliche Sack Reis umfällt. Ich habe eine Zeitlang täglich Stunden damit verbracht, durch die internationalen Websites und Zeitungen zu scrollen, um möglichst gut informiert zu sein; nach einer Weile hat mich das so runtergezogen, dass ich mir diesbezüglich eine Diät auferlegt habe. Inzwischen gibt es viele Tage, da lese ich außer der Online-Ausgabe der SZ nichts anderes mehr, höre höchstens ab und zu ein bisschen Radio.
Vor einer Weile las ich, dass die Fülle an Informationen, die wir durchschnittlich täglich aufnehmen, größer ist als die, die ein Bauer im Mittelalter in seinem ganzen Leben hatte. Der ist wahrscheinlich ein-, zweimal im Jahr zu einem Markt gefahren und hat dort die Neuigkeiten aufgeschnappt: Wer gestorben war, bei wem es gebrannt hatte, wer eine Kuh zu welchem Preis an wen verkauft hatte…
A: Unglaublich! Ich lese gerade das Sachbuch „Ein Hof und elf Geschwister“, in dem der Autor über das rechtschaffene bäuerliche Leben der 50er Jahre, den Wandel und den Untergang dieser einst hoch angesehenen Welt berichtet. Interessiert das wirklich jemanden außer mir, die ich die Münsterländer Bauerschaft ab den 70er Jahren zumindest ansatzweise kenne, weil ich dort auch aufgewachsen bin? Erstaunlicherweise ja! Das Buch ist seit 43 Wochen auf den ganz vorderen Plätzen der Sachbuch-Bestseller-Listen, obwohl der Autor in lakonischer Nüchternheit seitenlang vom scheinbar eintönigen Leben auf dem platten Land erzählt. Vielleicht kann man aus diesem Phänomen zumindest für den vermutlich sehr geringen Teil lesender Deutscher schlussfolgern, dass es eine gewisse Sehnsucht nach einer Zeit gibt, in der das Leben schlicht und überschaubar war? Mich beruhigt es jedenfalls ungemein, in eine Welt abzutauchen, in der kein einziges Handy bimmelt und man für den Besuch des nächstgelegenen Dorfes einen 20minütigen Fußmarsch zurücklegen muss oder gegebenenfalls den Gaul aus dem Stall holen muss, möchte man schneller sein. Vielleicht kaufen sich manche aber das Buch auch nur, um es sich in den Schrank zu stellen, damit sie bei Bedarf zumindest nachsehen könnten, wie es früher in der Bauerschaft war?
M: Ich glaube auch, dass es diese Sehnsucht nach einem einfachen Leben gibt. So erkläre ich mir auch den Erfolg von Kinderbüchern wie Astrid Lindgrens „Wir Kinder von Bullerbü“, das meine zwei Sprößlinge ebenso geliebt haben wie ich 30 Jahre vorher. Drei Familien, die einträchtig nebeneinander leben, sich gegenseitig helfen, zusammen feiern; die Kinder sind alle befreundet, klar streiten sie sich auch mal, aber sie sind eng und vertraut miteinander. Zur Schule und zum Laden im nächsten Dorf gehen sie weite Wege zu Fuß, was sie nicht weiter bemerkenswert finden, das einzige Gefährt ist ein Pferdeschlitten, mit dem sie im Winter zum Weihnachtsgottesdienst fahren. Das Leben ist einfach und von Arbeit geprägt, auch die Kinder haben schon feste Pflichten wie etwa, sich um Tiere zu kümmern. Rituale spielen eine große Rolle, die Eltern sind streng, aber liebevoll, es wird viel gescherzt und gelacht. Ich habe diese Bücher mindestens dreimal vorlesen müssen.
Diese Art von Existenz gibt es vermutlich nicht mal mehr im hintersten Schweden, aber gerade Kinder wären dafür sehr empfänglich. Ich denke ohnehin oft, wie schwer es sein muss, heutzutage kleine Menschen großzuziehen, ganz rausnehmen aus der sogenannte Zivilisation kann man sich und sie ja auch nicht. Also fliegen schon die kleinsten Zwackel um die halbe Welt, haben einen richtigen Stundenplan, müssen in überfüllten Klassen sitzen, dürfen nicht alleine zur Schule gehen und werden von vielen Eltern mithilfe von Handy und Trackern überwacht. Und die sozialen Netzwerke machen noch zusätzlich Druck: Wer ist schöner, schlauer, beliebter?
A: Die Söhne machen da interessanterweise nicht mit, mehr noch: Sie wollen auch nicht, dass ich Bilder veröffentliche, auf denen sie zu sehen sind. Ob sie das durchhalten in 2024? Ich vermute ja, vielleicht auch, weil sie in unserem Weihnachtsurlaub in Ägypten lieber den Tag kitend auf dem Wasser verbracht und abends lieber Karten gekloppt haben, als Fotos zu posten.
„Stirnraten“, dieses Gesellschaftsspiel, bei dem man Begriffe erraten muss, mussten wir allerdings – aus Mangel an einem richtigen Spiel mit realen Wortspielkarten – über die Handy-App spielen. Old-School-Gesellschaftsspiele sind aber anscheinend nicht komplett aus der Mode gekommen und überdauern – zumindest bei den Menschen, die sich in analogen sozialen Gruppen wohlfühlen. Vielleicht ist das ja unser kleines reales Bullerbü? Ich freue mich jedenfalls sehr auf UNSEREN ersten gemeinsamen Spieleabend in 2024. Und auf dein Klavier, auf dem ich immer klimpern darf, wenn ich bei dir bin. Vielleicht schaffen wir es in diesem Jahr auch, öfter mal vierhändig zu spielen? Statt vieler Vorsätze habe ich mir jedenfalls – dem Beispiel Dunja Hayali folgend – ein begleitendes Wort für das neue Jahr gewählt: „Verbundenheit“. Ob ich damit dem Krisenmodus trotzen kann? Wir werden sehen!